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Rechtschreibreform: Aktuell
Extraseite: Der Bundestagsdebatte über die Rechtschreibreform (02.12.2004)

Die kontroverse Debatte zeigt, daß CDU/CSU die Situation zumindest richtig analysiert, wenn sie der Feststellung ihres Abgeordneten Nooke zustimmt: "Was schon im Jahre 1995/96 auf der Konferenz der Kultusminister begann, hat in den vergangenen acht Jahren ein unglaubliches Chaos angerichtet." Der Union fehlt aber überwiegend die Bereitschaft, daraus Konsequenzen gegen die "Rechtschreibreform" zu ziehen. Nur die Abgeordnete Steinbach will nicht einsehen, daß man eine probeweise eingeführte Reform "nach Ende der Probezeit auf keinen Fall mehr rückgängig machen könnte." Während die FDP am klarsten gegen die "Rechtschreibreform" Stellung bezieht, bedauern Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen diese zwar, halten sich aber ansonsten an die SPD. Diese fällt vor allem durch Zwischenrufe auf, in denen sie etwa die Verunsicherung in der Bevölkerung auf die Kritiker zurückführt. Ihr Abgeordneter Barthel erklärt gar, er habe beim Lesen der beiden Anträge nicht feststellen können, welcher in der alten und welcher in der neuen Rechtschreibung formuliert sei. Entscheiden Analphabeten über die Rechtschreibung?
    Ein halbes Dutzend Äußerungen werden hier exemplarisch herausgegriffen und gekürzt wiedergegeben, allerdings ohne die Zwischenrufe vor allem aus den Reihen der SPD:

  • "Unser Antrag verhindert, daß der Eindruck entstehen könnte, der Deutsche Bundestag sei an Klarheit und Einheitlichkeit der deutschen Orthographie nicht interessiert. Zugleich sage ich aber noch einmal, daß das Aufstellen von Rechtschreibregeln nicht Aufgabe des Staates ist. Die Sprache gehört dem Volk. Folgerichtig maßt sich unser Antrag nicht an, den Bundestag aufzufordern, Entscheidungen über die Kommasetzung zu treffen; wir bitten vielmehr die Kultusminister der Länder, eine verbindliche Regelung herbeizuführen und das Nebeneinander verschiedener Auffassungen und Schreibweisen zu beenden. Wir richten uns an die Kultusminister, weil wir die Lage realistisch einschätzen, nicht etwa weil wir die Adressaten für die richtigen halten. 'Realistisch' meint: Die Kultusminister sind angesprochen, weil sie sich die Zuständigkeit angeeignet haben. Sie haben sich in politischer Regelungswut am Heiligsten einer Kulturnation vergriffen: der Sprache. Sie müssen jetzt die Größe haben, ohne Ansehen der eigenen Person, wieder einen gemeinsamen Sprachnenner zu finden. Das müssen sie ein für allemal tun und dann müssen sie ein für allemal die Finger davon lassen, die Sprache noch einmal durch politische Eingriffe zu regeln. [...]
        Es ist wichtig, hinzuzufügen, daß sich die Weiterentwicklung der Orthographie an der guten Lesbarkeit der deutsch geschriebenen Texte orientieren muß und nicht etwa daran, wie es gelingen könnte, daß Schüler weniger Fehler beim Schreiben machen. Dieses falsche Denken, dieses Mißverständnis ist mit dafür verantwortlich, daß man die Kultusminister für die Rechtschreibreform zuständig hielt. Wäre damals im Deutschen Bundestag die Frage gestellt worden, ob eine groß angelegte Reform notwendig sei und, wenn ja, ob die Kultusminister sich ihr widmen sollten, wäre die Antwort ein eindeutiges Nein gewesen.
        Mit derselben Klarheit, mit der ich diese Frage damals beantwortet hätte, muß ich aber heute sagen: Es ist geradezu absurd, zu denken, der Rechtschreibung in Deutschland und im deutschen Sprachraum sei am besten gedient, wenn es jetzt das Kommando 'Zurück zur alten Rechtschreibung!' gäbe." (Günter Nooke, CDU/CSU, einstiger DDR-Bürgerrechtler)
  • "Erlauben Sie mir noch eine kurze Fußnote. In der Presse wurde darüber berichtet, daß der eine Antrag in der alten Rechtschreibung formuliert wurde und der andere in der neuen. Ich habe mich gefragt, welcher das ist. Ich gestehe, daß ich es beim Lesen nicht habe feststellen können. Vielleicht bin ich der Einzige. Erklären Sie es mir!
        Ich bin zwar voll gegen den Gruppenantrag, weil sein Inhalt falsch ist. Aber er ist ehrlicher als der Antrag der CDU/CSU; denn im Gruppenantrag wird mit der Forderung nach völliger Rücknahme der Rechtschreibreform klar Position bezogen. Angesichts der aktuellen Föderalismusdebatte finde ich es aber ein bißchen anmaßend, wie Sie auf Bundesebene den einheitlich gefaßten Beschluß der Ministerpräsidenten, die dafür zuständig sind, quasi aufheben wollen. [...]
        Der Rechtschreibreform einige Zähne zu ziehen – in der Tat gibt es mehrere Stellen, an denen man sich fragt, wie das zustande gekommen ist – wird die Aufgabe des Rates für deutsche Rechtschreibung sein; das ist die einzige Chance. Wenn er es nicht schafft, ist der Zug abgefahren. Deshalb unterstütze ich den Rat und nicht Schauanträge. Wenn die Anträge, die wir heute überweisen, aus den Ausschüssen irgendwann zurückkommen, dann hat der Rat – so hoffe ich jedenfalls – einen großen Teil seiner Arbeit schon erfolgreich erledigt." (Eckhardt Barthel, SPD)
  • "An dem jahrhundertelang in Deutschland, aber auch in den allermeisten anderen europäischen Kulturnationen bewährten Gebot einer behutsamen und organischen Sprach- und Rechtschreibentwicklung durch das Volk haben sich die Bürokraten der zwischenstaatlichen Kommission versündigt. [...]
        Staatliche Sprachlenkung ist genau das, was die Unterzeichner des Gruppenantrags jetzt und für alle Zukunft verhindern möchten. [...]
        Wer die Einheit der deutschen Sprache will – wir wollen sie –, der muß von einer staatlich verordneten Schlechtschreibreform konsequent Abstand nehmen." (Hans-Joachim Otto, FDP)
  • "Das Verhalten eines Abgeordneten einer Regierungsfraktion wird manchmal mehr in geordnete Bahnen gelenkt, als man es sich als frei gewählter Abgeordneter wünscht. In diesem Fall war es so, dass die Vorstände beraten und sich darauf geeinigt haben, diese Abstimmung nicht freizugeben. Vermutlich hat man gedacht, Ihrem Antrag, Herr Kollege Otto, werde gefolgt, wenn man die Abstimmung darüber freigibt. Dementsprechend habe ich mich dazu hinreißen lassen, meine Unterschrift zurückzuziehen, obwohl ich Ihren Antrag vollinhaltlich unterstütze. Das will ich hier noch einmal sagen.
        Zum anderen sagen die Befürworter, man dürfe es den Kindern nicht antun, die Reform jetzt wieder zurückzunehmen. Das ist, finde ich, eine perfide Argumentation; denn die, die von Anfang dagegen waren, haben gerade der Kinder wegen davor gewarnt, diese komplette Umstellung vorzunehmen. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen.
        Der Herr Zehetmair gehört auch zu denen, die die Reform gegen die breite Öffentlichkeit in Deutschland durchgepeitscht haben. Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn der, der das gegen den Widerstand der breiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, jetzt den Vorsitz übernimmt und sagt, es sei ein Irrweg, wenn sich der Bundestag damit befasse." (Philipp Winkler, B 90/Die Grünen)
  • "Ehrlicherweise muß ich wohl sagen, daß ich an der Rechtschreibreform ebenso wenig Freude hatte, wie ich Freude an der Diskussion habe, die wir heute führen, nämlich an der Diskussion darüber, sie wieder rückgängig zu machen. [...]
        In meinem Heimatland Schleswig-Holstein wurde die Reform der Rechtschreibung durch einen Volksentscheid gestoppt, aber nur für ein Jahr; denn im Sinne der gesamtstaatlichen Verantwortung und der nationalen Identität, die in den heute vorliegenden Anträgen vielfach beschworen werden, mußte die Landesregierung ein Jahr später – gemeinsam übrigens mit der CDU/CSU-Opposition – diesen Entscheid mißachten. [...]
        Eine simple Kehrtwende zur alten Rechtschreibung mehr als ein halbes Jahrzehnt nach der Einführung der neuen Rechtschreibung halte ich politisch für absolut nicht verantwortbar. Diejenigen, die mit der neuen Rechtschreibung Schwierigkeiten haben und am lautesten 'Zurück!' rufen, haben früher in der Schule die alte Rechtschreibung gelernt und haben einfach keine Lust, sich umzustellen. Das ist verständlich; das geht mir zum Teil auch so." (Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen)
  • "Liebe Kollegin, man muß schon sagen, Ihre Argumente hinken auf beiden Beinen. Sie haben aus Schleswig- Holstein berichtet und wollten damit plausibel machen, warum man eine Rechtschreibreform, die erst einmal probeweise eingeführt worden ist, nach Ende der Probezeit auf keinen Fall mehr rückgängig machen könnte. Sie sagten, das Ganze würde keinen Sinn machen. Dann darf man die Reform nicht probeweise einführen, sondern muß sie von Anfang an endgültig einführen." (Erika Steinbach, CDU/CSU)

Drei Widersprüche seien hier noch einmal explizit aufgezeigt:

Man stelle sich einmal vor, die Rechtschreibrebellen im deutschen Bundestag würden nicht nur einen fraktionsübergreifenden Antrag unterzeichnen (und ihre Unterschrift dann auf Druck ihrer Fraktionen vereinzelt wieder zurückziehen), sondern – ihrem Gewissen und dem Willen der Bevölkerungsmehrheit folgend – alle Anträge, Vorlagen, Protokolle etc. ablehnen, die statt in deutscher Rechtschreibung in zwangsreformierter Schulschreibung verfaßt sind. Ein solcher Akt wäre wohl zu gewagt, als daß ihn viele wagen würden: Er würde zwar die demokratische Kultur auch auf anderen Politikfeldern neu beleben, aber auch das übliche Ränkespiel und Geschacher hinter den Kulissen gefährden ...



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