Im Februar 2004
Petition zur Beendigung des Rechtschreibreformprojekts ‹Anrede›, nach Jahren der Erprobung der in der Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996 in Aussicht genommenen Rechtschreibreform zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß das Vorhaben schwerwiegende Mängel aufweist. Diese werden freilich bei einer nur oberflächlichen Befassung mit dem Reformwerk und bei der Lektüre einfacher Texte nicht in ihrer ganzen Tragweite wahrgenommen. Manch einer, der inzwischen meint, sich auf das neue Regelwerk einstellen zu müssen, schenkt denn auch den Beteuerungen der Mitglieder der Rechtschreibkommission Glauben, die reformierte Rechtschreibung komme mit nur 112 Regeln aus, die insgesamt in sich schlüssig und leicht erlernbar seien. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Neuschreibung zeigt jedoch, daß diese Beteuerungen alles andere als zutreffend sind. Der Mainzer Sprachwissenschaftler Werner H. Veith hat nämlich nachgewiesen, daß das neue Regelwerk neben seinen Hauptregeln 1106 Anwendungsbestimmungen in Form von Unterregeln, Spezifikationen, Kannbestimmungen, Bedingungen, Listen und Verweisen umfaßt. Um das Reformwerk „korrekt“ anzuwenden, müßte man diese auswendig lernen. Schon deshalb befürchten wir, die Unterzeichner dieser Petition, daß selbst nach Jahren der Erprobung niemand das neue Regelwerk beherrscht. Im übrigen erschließt sich das Ausmaß an Unprofessionalität, mit dem das Reformwerk angegangen wurde, erst bei eingehenderem Studium der einzelnen Regeln und Anwendungsbestimmungen. Darauf mag es bei einfach gelagerten Texten nicht immer ankommen; die genaue Kenntnis ist aber bei komplizierteren Inhalten, etwa in Wissenschaft und Dichtung, unabdingbar. Die dann in Erscheinung tretenden gravierenden Mängel der Neuschreibung sind das Ergebnis einseitiger, verkürzter oder schlicht falscher Betrachtungen der deutschen Sprache von Grammatik, Semantik und Phonetik sowie unausgewogener Formelkompromisse der verantwortlichen Kommissionsmitglieder. Die überaus große Zahl der Mißgriffe macht das Reformwerk für komplexe Texte geradezu unbrauchbar. Die Rechtschreibung muß sich aber für sämtliche Textarten eignen. Schon dieser Umstand disqualifiziert das Reformwerk. Da die geänderte Rechtschreibung in ihrer Gesamtheit willkürlichen, der Sprache nicht gerecht werdenden Strukturen folgt, führt auch jede Reform der Reform zu keinem vernünftigen Ergebnis. Dies gilt erst recht für die jüngst von der Rechtschreibkommission vorgeschlagenen Änderungen, die sich einem rationalen Zugriff entziehen und das bereits angerichtete Chaos nur vergrößern. Deshalb halten wir es für unerläßlich, daß sich der Deutsche Bundestag, die deutschen Landtage, der Nationalrat der Republik Österreich sowie der Nationalrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit diesem auf Verwaltungsebene beschlossenen Reformvorhaben befassen und seine Beendigung beschließen. Zu diesem Zweck bitten wir Sie, die nachfolgende Petition an die für die Entscheidung zuständigen Gremien weiterzuleiten. Die Petition hat folgende Ziele:
G r ü n d e : Nachfolgend weisen wir auf einzelne Hauptmängel der reformierten Rechtschreibung hin und geben dafür einige wenige Beispiele an, die oft für eine Vielzahl anderer Ungereimtheiten, Systembrüche oder Unrichtigkeiten stehen. Danach machen wir auf einzelne Gesichtspunkte aufmerksam, auf Grund derer die umgehende Beendigung der Erprobung der neuen Rechtschreibung nicht nur möglich ist, sondern auch den einzig sinnvollen Weg darstellt. I. Defizite der Rechtschreibreform Die erheblichen Defizite der Rechtschreibreform sind inzwischen in der öffentlichen Diskussion hinlänglich belegt:
alleinstehend, allgemeinbildend, aufwärtsgehen, auseinandersetzen, bekanntmachen, bewußtmachen, dahinterkommen, fallenlassen, fertigbringen, fertigstellen; hängenbleiben, Handvoll, kennenlernen, laufenlassen, naheliegend, nahestehend, nebeneinandersitzen, nichtssagend, offenbleiben, richtigstellen, schiefgehen, schwerfallen, sitzenbleiben, sogenannt, stehenlassen.
Der letzte Wille (auch im Sinn der letztwilligen Verfügung), aber: das Letzte Gericht; Pleite gehen, aber: pleite sein; recht machen, aber: Recht bekommen.
Es tut mir sehr Leid; er hat Recht; es tut Not; im Übrigen; des Öfteren; des Weiteren; heute Morgen; gestern Abend.
mithilfe, gesprochen aber: mit Hilfe; zurzeit, gesprochen aber: zur Zeit.
Tee-nager, Seee-lefant, Obst-ruktion, Etatü-berschreitung, I-mage, vol-lenden, beo-bachten, vere-helichen, Preise-lastizität, Pressea-gentur, alla-bendlich, durcha-ckern, Hause-cke.
Er ging gestern von allen wütend beschimpft zur Polizei. Er schwört vor dem Gerichtshof die volle Wahrheit gesagt zu haben.
Flussschifffahrt, Prozessserie, Nachlasssache, Verschlusssache, Schlosserkundung, Schlammmassen, Messergebnis, Missstimmung.
schnäuzen wegen Schnauze; verbläuen wegen blau; Gämse wegen Gams, aber Eltern trotz alt; Tollpatsch wegen toll; belämmert wegen Lamm; gräulich wegen Grauen (ebenso wie gräulich von grau); Rauheit wegen rau, aber Rohheit und Jähheit, dann jedoch: Hoheit.
Not leidend (Bevölkerung), aber: notleidend (Kredit); Heil bringend und heilbringend, aber nur: Unheil bringend; Musik liebend und musikliebend, aber nur: tierliebend; Kosten sparend und kostensparend, aber nur: kostendeckend.
Alptraum und Albtraum Spaghetti und Spagetti hoch begabt und hochbegabt (gleiche Bedeutung) hochgesteckt (Haar) und hoch gesteckt (Ziel) hochkonzentriert (Schüler) und hoch konzentriert (Säure) hochgestellt (Zahl) und hoch gestellt (Persönlichkeit) selbständig und selbstständig imstande sein und im Stande sein hierzulande und hier zu Lande aufwendig und aufwändig infrage stellen und in Frage stellen wohl erzogen und wohlerzogen (gleiche Bedeutung) Eine Kuriosität: das In-Kraft-Treten, aber: die Inkraftsetzung
Strasse (statt Straße), Busse (statt Buße), Grüsse (statt Grüße), Schliessfach (statt Schließfach), ausserdem (statt außerdem); er weiss (statt er weiß); sie heisst (statt sie heißt).
II. Mögliche Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung Die Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung ist nicht nur möglich, sondern die allein sinnvolle Alternative zu den mit dem neuen Regelwerk verbundenen Problemen. Dies ergibt sich bereits aus folgenden Überlegungen:
III. Entscheidung durch die Parlamente Die Entscheidung über die Rückkehr zur tradierten Rechtschreibung treffen sinnvollerweise die zuständigen Parlamente, da die Exekutive wegen ihrer Vorbefassung mit dem Reformwerk dazu nicht mehr geeignet erscheint. Hinzu kommt, daß die für weite Teile der Sprachgemeinschaft überraschende Einführung des Reformwerks bei vielen Betroffenen den Eindruck der demokratisch nicht legitimierten Bevormundung durch die Exekutive hervorgerufen hat. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat zwar im Hinblick darauf, daß das neue Regelwerk grundsätzlich keine rechtlichen Wirkungen entfaltet, einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip nicht angenommen. Dies ändert politisch aber nichts an dem Umstand, daß die Aktivitäten der Kultusverwaltungen dem Vertrauen in die demokratisch legitimierte Staatsgewalt erheblichen Schaden zugefügt haben. Aus Verantwortung für die deutsche Rechtschreibung, die deutsche Sprache und deren Bedeutung im internationalen Bereich fordern wir daher in Übereinstimmung mit den deutschen und ausländischen Schriftstellern, den deutschen Akademien der Wissenschaften und der Schönen Künste sowie den Sprach- und Literaturwissenschaftlern an in- und ausländischen Universitäten eindringlich, umgehend wie beantragt zu entscheiden. Professor Dr. Heinz-Dieter Assmann Professor Dr. Christian Berger Professor Dr. Dieter Blumenwitz Professor Dr. Winfried Brohm Professor Dr. Christian Calliess, M.A.E.S., LL.M. Eur Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus-Wilhelm Canaris Professor Dr. Wolfgang Däubler Professor Dr. Steffen Detterbeck Professor Dr. Ulrich Eisenhardt Professor Dr. Hans Forkel Professor Dr. Gilbert Gornig Professor Dr. Georgios Gounalakis Professor Dr. Reto Hilty
Max-Planck-Institut für ausl. u. intern. Professor Dr. Martin Ibler Professor Dr. Dr. h.c. Othmar Jauernig Professor Dr. Abbo Junker Professor Dr. Dr. h.c. Gerhard Kegel Professor Dr. Bernd-Rüdiger Kern Professorin Dr. Eva-Maria Kieninger Professor Dr. Winfried Kluth Professor Dr. Rolf Knütel Professor Dr. Helmuth Köhler Professor Dr. Stephan Korioth Professor Dr. Jan Kropholler Professor Dr. Kurt Kuchinke Professor Dr. Stefan Lorenz Professor Dr. Heinz-Peter Mansel Professor Dr. Hartmut Maurer Professor Dr. Stefan Muckel Professor Dr. Joachim Münch Professor Dr. Dr. h.c.Thomas Oppermann Professor Dr. Eckhard Pache Professor Dr. Manfred Rehbinder Professor Dr. Oliver Remien Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin Professor Dr. Bernd Rüthers Professor Dr. Matthias Ruffert Professor Dr. Hans Schlosser Professor Dr. Reiner Schmidt Professor Dr. Helge Sodan Professorin Dr. Astrid Stadler Professor Dr. Olaf Sosnitza Professor Dr. Gerald Spindler Professor Dr. Dres. h.c. Klaus Stern Professor Dr. Rolf Stürner Professor Dr. Arndt Teichmann Professor Dr. Andreas Voßkuhle Professor Dr. Heinrich de Wall Rechtsanwalt Dr. Johannes Wasmuth Professor Dr. Herbert Wiedemann Professor Dr. Dietmar Willoweit Professor Dr. Manfred Wolf Professor Dr. Thomas Würtenberger Professor Dr. Jan Ziekow
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