Antrag
der Fraktion der FDP
Rechtschreibreform muß ergebnisoffen auf den Prüfstand
Sicheren Sprachgebrauch und kulturelle Identität wiederherstellen
I. Ausgangslage
Ursprüngliches Ziel der Rechtschreibreform war es, für eine sicherere und fehlerfreiere Beherrschung der deutschen Sprache zu sorgen. Das Regelwerk sollte vereinfacht und um unlogische orthographische Schreibweisen bereinigt werden, um für mehr Klarheit und Sicherheit im sprachlichen Umgang zu sorgen.
Der für die Erprobung der neuen Regeln vorgesehene Versuchszeitraum läuft am 31. Juli 2005 ab. Jetzt ist es daher an der Zeit, die praktischen Erfahrungen zu analysieren und sachgerechte Entscheidungen zu treffen.
Insbesondere die Akademie für Sprache und Dichtung hat in den letzten Jahren die Auswirkungen der neuen Rechtschreibung gründlich analysiert und soeben einen respektablen Vorschlag zur Modifikation der orthographischen Neuregelungen vorgelegt, der eine gründliche Prüfung verdient hat.
Heute wissen wir: Die neue Rechtschreibreform hat ihren eigenen Anspruch weit verfehlt.
- Zu den 112 Regeln der reformierten Rechtschreibung bestehen 1.106 Anwendungsbestimmungen, in denen 105 Wortlisten enthalten sind mit zusammen 1.180 zu lernenden und nachzuschlagenden Wörtern. Hinzu kommt etwa die gleiche Zahl von Wörtern mit Doppelschreibungen. Das bedeutet, daß etwa ein Fünftel der aufgelisteten 12.000 Wörter nicht durch die Regeln der amtlich reformierten Rechtschreibung erfaßt sind. Im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung gibt es neu 7 Regeln, 253 Anwendungsbestimmungen und 45 Unterregeln. Die Neuregelungen haben die deutsche Sprache komplizierter gemacht.
- Schüler machen seit Einführung der neuen Regeln nicht weniger, sondern mehr Fehler. Es ist unhaltbar, ihnen ab 1. August 2005 dafür schlechte Noten zu geben, daß sie die in der Gesellschaft überwiegend gebräuchlichen Schreibweisen verwenden. Dies erklärt auch den Protest des deutschen Lehrerverbandes gegen die strikte Beibehaltung der neuen Rechtschreibung.
- 95% des aktuellen Schriftgutbestandes sind in der traditionellen Rechtschreibung verfaßt – von Bibliotheken über den privaten Hausbuchbestand. Dies prägt den Fortgang der Sprachkultur.
- Die Breite der Bevölkerung lehnt die Neuregelungen ab und weigert sich, diese zu praktizieren. Seriösen demoskopischen Erhebungen zufolge will nur jeder siebte Deutsche an der neuen Rechtschreibung festhalten. Dies zeigt, daß sprachliche Änderungen nicht von oben durch Politik oder Wissenschaftlerzirkel verordnet werden können, sondern sich Sprache nur maßvoll durch den Gebrauch der Anwender weiterentwickelt.
- Insbesondere durch die künstliche Getrenntschreibung hat die deutsche Sprache ein erhebliches Maß an innerer Logik eingebüßt. So ist aus einem vielversprechenden Reformziel zu Beginn nun im Ergebnis ein viel versprechendes Vorhaben geworden, das in Wahrheit wenig hält. Tausende von weiteren Beispielen belegen, wie sinnentstellend sich insbesondere die verordnete Getrenntschreibung auswirkt.
- In der logischen Folge stellen immer mehr Zeitungen und Verlage wieder auf die bewährte Rechtschreibung um. Namhafte Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass oder Walter Jens untersagen es den Verlegern, ihre Werke in neuer Rechtschreibung zu verfassen. Ebenso sprechen sich das deutsche P.E.N.-Zentrum, 9 Akademien der Künste und Wissenschaft, die Forschungsgruppe Deutsche Sprache und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gegen die Neuregelungen und für eine schnellstmögliche Reform der Reform aus.
Es ist die Aufgabe verantwortungsvoller Politik, begangene Fehler einzugestehen und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Eine Politik, die stur an Verordnungen von oben festhält und dabei die berechtigten Bedürfnisse der Bevölkerung ignoriert, hat keine Unterstützung verdient und wird sie auch nicht erlangen.
II. Handlungsnotwendigkeiten
Der Landtag von Nordrhein-Westfalen möge daher beschließen:
Der Landtag bekennt sich klar zum Ziel eines verständlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, der auch das Rechtschreibbewußtsein der Bevölkerung trifft. Daher werden folgende Festlegungen getroffen:
- Die Sinnhaftigkeit der neuen Rechtschreibung wird rechtzeitig vor Ablauf der Übergangszeit bis zum 30. Juli 2005 gründlich evaluiert. Insbesondere ist umfassend zu erheben, in welchem Umfang die Ziele erreicht oder verfehlt worden sind. Bei der abschließenden Entscheidung über eine Rücknahme der Reform ist die Nutzerakzeptanz und das Ziel eines möglichst verständlichen und einheitlichen Sprachgebrauchs gebührend in Rechnung zu stellen. Dieser Abwägungsprozeß muß ergebnisoffen und unideologisch erfolgen.
- Veränderungen, die der Sprachlogik nach nachvollziehbar sind und von den Anwendern gern aufgegriffen werden, bleiben auch zukünftig bestehen.
- Sinnverzerrungen, die sich bereits heute als unpraktikabel erwiesen haben, werden zurückgenommen. Dies betrifft insbesondere die Problematik der Getrenntschreibung und den Entfall notwendiger Kommasetzungen, die das Leseverständnis beeinträchtigen.
- Schülern, die aufgrund ihrer bisherigen Vorliebe oder infolge der gesellschaftlich breit präferierten traditionellen Schreibweise an dieser auch zukünftig festhalten möchten, wird dies nicht als Fehler angerechnet. Unabhängig von der letztlichen Entscheidung in der Sache gibt es großzügige Übergangsregelungen bei der Benotung, damit weder Anhängern der neuen noch der alten Schreibweise schulische Nachteile beim Gebrauch entstehen.
- Zukünftige Reformen bei der deutschen Sprache werden nicht im kleinen Kreis oder am grünen Tisch entschieden. Sprachentwicklung erfolgt von unten durch die Nutzer.
- Die Landesregierung setzt sich ab sofort in der KMK für eine sachgerechte Überarbeitung der objektiv unpraktikablen Elemente der neuen Rechtschreibung ein.
III. Begründung
Die neue Rechtschreibung mit all ihren einzelnen Elementen hat zweifelsohne nicht ihre selbst gesteckten Ziele erreicht. Einzelne nunmehr zulässige Variantenschreibweisen haben Entwicklungen des bisherigen Sprachgebrauchs nachvollzogen und sich als in der Praxis unproblematisch erwiesen.
Andererseits haben die Getrenntschreibung und der weitestgehende Entfall der Kommasetzung zu Sinnverstellungen und einem geringeren Leseverständnis geführt. Auch widersprechen viele eingedeutschte Fremdwörter gegenwärtig klar dem sprachästhetischen Empfinden vieler Menschen. Diese Sachverhalte gehören auf den Prüfstand.
Die zeitlich befristete Erprobungsphase macht nur Sinn, wenn eine gründliche Evaluation der bisherigen Neuregelungen emotionslos möglich ist und nicht folgenlos bleibt. Dies setzt auch die nüchterne Bereitschaft voraus, Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Entscheidende Kriterien für die Weiterentwicklung der deutschen Sprache sind dabei die Wiederherstellung der orthographischen Einheit, die notwendige Nutzerakzeptanz, das sprachliche Sinnverständnis und eine Erleichterung im sicheren Sprachgebrauch für einen möglichst großen Teil der Bevölkerung.
Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Identität. Diese darf nicht abrupt zerschlagen werden, sondern bedarf einer kontinuierlichen maßvollen Weiterentwicklung, die den gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung trägt.
Eine sachgerechte Überarbeitung des neuen Regelwerkes ist der liberale Weg der Vernunft. |