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Rechtschreibreform: Aktuell
Extraseite: KMK-Präsidentin Doris Ahnen streitet alles ab (22.11.2004)

In einem heute veröffentlichten Interview des SPIEGEL (Heft 48/04 vom 22.11.2004) mit der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Doris Ahnen, weicht diese kritischen Fragen aus und bestreitet jegliche Schwäche der "Rechtschreibreform". Ihre Äußerungen sind mit Kommentaren im Anschluß an das Interview verlinkt:

"Wir werben um die Kritiker"

Doris Ahnen, 40, Präsidentin der Kultusministerkonferenz, über den Widerstand in der Bevölkerung gegen die reformierte Rechtschreibung, über die Fehler des Regelwerks und die Hoffnung, den orthografischen Frieden wiederherzustellen

SPIEGEL: Frau Ahnen, ein Vierteljahrhundert lang haben Experten an der Rechtschreibreform getüftelt. Von vielen Sprachwissenschaftlern und Schriftstellern wird das Ergebnis nach wie vor heftig kritisiert. Schüler lernen eine andere Rechtschreibung, als sie von vielen Literatur-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen angewendet wird.

Ahnen: Ich wehre mich gegen den permanent vermittelten Eindruck, da hätten ein paar Politiker oder Beamte am grünen Tisch gesessen und entschieden, wie geschrieben werden soll. Mit der Reform waren vor allem Sprachwissenschaftler befasst, was auch richtig gewesen ist.

SPIEGEL: Aber die frühere Einheitlichkeit der Schriftsprache ist durch die Reform ohne Grund zerstört worden.

Ahnen: Sie ist nicht ohne Grund zerstört worden. (K1)

SPIEGEL: Aber dass sie zerstört worden ist, geben Sie zu?

Ahnen: Nein, das gebe ich nicht zu. Den Ansatzpunkt der Reform hat Konrad Duden doch schon vor über hundert Jahren formuliert: Wir haben zwar die Rechtschreibung vereinheitlicht, aber noch nicht vereinfacht. Die Frage für unsere Reform war also: Wie kann man die Orthografie so gestalten, dass sie besser erlernbar ist? Ich bekomme immer wieder um die Ohren gehauen, dies zum Maßstab zu machen. Aber das ist ein legitimer Maßstab. Denn wenn wir als Kultusminister für die Schule zuständig sind, haben wir uns auch darum zu kümmern. Ich finde, die Reform hat Vereinfachungen gebracht. (K1)

SPIEGEL: Der Leipziger Pädagogikprofessor Harald Marx hat 1200 Diktate in alter und neuer Rechtschreibung verglichen und festgestellt, dass heute wesentlich mehr Fehler gemacht werden.

Ahnen: Es gibt meines Wissens in Österreich eine Studie, die genau das Gegenteil belegt. (K2)

SPIEGEL: Die Zeitschrift "Praxis Deutsch" veröffentlichte 1985 eine Untersuchung von 2000 Schulaufsätzen. Die 50 häufigsten Fehler waren solche, die von der Reform gar nicht betroffen sind.

Ahnen: Wir haben die Reform nicht nach dem Motto gemacht: "Wo entstehen die meisten Fehler?" Es ging um die Frage, wie kann man Dinge leichter erklärbar machen, wie kann man sie logischer gestalten, wie kann man die Anzahl der Regeln reduzieren. Es sind hundert weniger als früher. (K3)

SPIEGEL: Der neue Duden braucht aber nicht viel weniger Paragrafen als früher, um diese Regeln zu erklären. Im Übrigen muss man sich mit der neuen Rechtschreibung auch auf ein neues Lesen umstellen – und das ist schwieriger geworden.

Ahnen: Das Lesen ist nicht schwieriger geworden. Denn von der Reform sind nur zwei Prozent der Wörter betroffen. Und bei 95 Prozent dieser Wörter geht es um die neue Doppel-s-Schreibung. Deswegen hat niemand Probleme, einen Text zu verstehen. (K4)

SPIEGEL: Die neuen Kommaregeln erschweren das Verständnis. Die Nachrichtenagenturen sind deshalb zu den alten Kommaregeln zurückgekehrt.

Ahnen: Gerade bei den Kommata ist die Regelung freier geworden. (K5)

SPIEGEL: Aber auf Kosten der Verständlichkeit des Satzes.

Ahnen: Ich kann nicht erkennen, wo hier die Verständlichkeit beeinträchtigt worden ist.

SPIEGEL: Das machen die Nachrichtenagenturen doch nicht aus Jux.

Ahnen: In Ihrer Fragestellung tun Sie so, als würden die Dinge nicht im Kontext gesehen. Gerade wenn man liest, erschließt sich das Verstehen im Zusammenhang. (K6)

SPIEGEL: "Die sogenannten Reformer werden von manchen nur so genannt" – nach den neuen Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung ist es gleich, wie man "so genannt" schreibt, obwohl die Bedeutungen unterschiedlich sind. Beide Varianten sind zugelassen. Warum verzichtet die Reform auf die Feinheiten der Sprache?

Ahnen: Sie verzichtet nicht darauf. Noch einmal: Die Wörter stehen doch nicht allein da. Die Unterschiede sind auch hier durch den Kontext erkennbar. Und das erwarten wir von den Schülern. Wir wollen ihre Fähigkeit stärken, Texte zu verstehen. (K6)

SPIEGEL: Aber der Kontext klärt nicht alles: Sind Sie eine wohlbekannte Ministerin oder eine wohl bekannte Ministerin?

Ahnen: Ich sehe nicht, dass durch die Veränderungen, die vorgenommen wurden, die Lesbarkeit von Texten beeinträchtigt wird. Auch nicht, dass das Zulassen von Varianten die Verständlichkeit einschränkt. (K6)

SPIEGEL: Jedenfalls herrscht eine heillose Schreibverwirrung. Seit die Reform vor acht Jahren beschlossen wurde, hat eine Kommission das Regelwerk viermal nachgebessert, die Zahl der Ausnahmen vergrößert, Einzelteile auf den alten Stand zurückgefahren und dabei Inkonsequenzen in Kauf genommen. "Halbtrocken" wird zusammengeschrieben, "halb tot" aber auseinander.

Ahnen: Dann nenne ich Ihnen ein anderes Beispiel. Ein Kind lernt das Wort "Platz". Mit der neuen Rechtschreibung kann es das Verb logisch ableiten, nämlich "platzieren". Nach der alten Rechtschreibung hätte es "plazieren" schreiben müssen. Zur "heillosen Schreibverwirrung": Man kann wirklich alles umdrehen! Die Reform hat auf Kritik reagiert und sie aufgenommen, und im Nachhinein wird eine Verwirrung beklagt. Wir haben uns immer um einen Prozess der Akzeptanz bemüht. Akzeptanz heißt aber auch, dass man die Dinge nicht lupenrein umsetzen kann. Man muss Kompromisse schließen. Das hat aber nicht zur Verwirrung beigetragen. Was die Betroffenen verwirrt und verunsichert hat, war die öffentliche Debatte, als einige gesagt haben, wir machen da nicht mit. (K7)

SPIEGEL: Wenn Ihnen alle gefolgt wären und die Rechtschreibregeln wie ein neues Steuergesetz akzeptiert hätten, wäre alles in Butter gewesen?

Ahnen: Ich würde die Entwicklung der deutschen Rechtschreibung niemals mit einer Steuerreform vergleichen. Ich lege großen Wert darauf, dass es sich bei der Rechtschreibung immer um Entwicklungsprozesse handelt, deren Ausgang immer auch ein Stück offen ist. Deswegen hat es Übergangsfristen gegeben und einen kontinuierlichen Prozess der Umstellung in den Schulen. Wir haben darum geworben und darauf gehofft, dass sich möglichst viele Privatpersonen anschließen, weil wir das insbesondere mit Blick auf Eltern und Kinder gut finden.

SPIEGEL: Diese Hoffnung hat ja getrogen. Nach einer jüngsten Umfrage von Allensbach wollen sich 68 Prozent der Deutschen nicht auf die neue Rechtschreibung umstellen. Nur 19 Prozent haben es getan.

Ahnen: Ich bin etwas skeptisch gegenüber solchen Umfragen. Im April sollen es noch 30 Prozent gewesen sein, die die neue Rechtschreibung angenommen haben. Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass die 11 Prozent wieder zurückumgestellt haben! (K8)

SPIEGEL: Jedenfalls will eine Mehrheit nicht mitmachen.

Ahnen: Auch das braucht Zeit, und ich nenne Ihnen eine andere Umfrage: 70 Prozent der Unternehmen haben die Rechtschreibreform bereits umgesetzt und wollen dabei bleiben. (K9)

SPIEGEL: Die Unternehmen haben dazu das Signal von der Politik bekommen. Außerdem stehen sie in bürokratischen Zwängen, die sie berücksichtigen müssen.

Ahnen: Die Schulen sagen uns eindeutig: Wir wollen nicht zurück. Die Umsetzung der Reform ist in den Schulen weitestgehend unproblematisch gelaufen. Das haben die Rückmeldungen ergeben. Man kann nicht so tun, als wären zwölf Millionen Schüler seit 1998 eine vernachlässigbare Größe. (K10)

SPIEGEL: Hat es jemals eine Überprüfung des angeblichen Erfolgs gegeben?

Ahnen: Viele Schulen und Lehrer haben sich gemeldet. Erst kürzlich hatte ich einen intensiven Austausch mit Vertretern der Schüler- und Lehrerschaft, die ein eindeutiges Votum abgegeben haben: nämlich bei der Rechtschreibreform zu bleiben. Die Schule ist ein sehr sensibles System. Wenn ich heute etwas verändere, bekomme ich morgen eine Reaktion, meist eine sehr kritische. Zum Thema Rechtschreibreform hielt sich die Kritik sehr in Grenzen.

SPIEGEL: Dennoch ist die Reform alles andere als allgemein akzeptiert. Die Bevölkerung ist mehrheitlich dagegen, viele Verlage sind es, renommierte Sprachwissenschaftler und zahlreiche Schriftsteller wie die Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass und Elfriede Jelinek. Von einer Randgruppe kann nicht die Rede sein.

Ahnen: Eltern und Schüler sind auch keine Randgruppe. (K10)

SPIEGEL: Die Reform ist offensichtlich nur für Kinder gedacht und nicht für Schreibende und Leser.

Ahnen: Auch die Kinder sind Schreiber und Leser. Mit der Reform wollten wir zwei Dinge erreichen: einerseits den Sprachreichtum bewahren und andererseits den Kindern angesichts der vielen Ausnahmeregelungen und Sondertatbestände der alten Rechtschreibung entgegenkommen. Das ist ein legitimer Anspruch. Dass Schriftsteller ein ganz besonderes Verhältnis zu Sprache haben, fasziniert uns doch alle. Diese Perfektion im Umgang mit der Sprache werden aber die allermeisten von uns nicht erreichen. In der alten Rechtschreibung hat es zu viele Einzelregelungen gegeben. Immer weniger Menschen konnten in die Lage versetzt werden, sie sicher zu handhaben. Ihnen zu helfen, ohne der Schriftsprache Substanz zu nehmen, war das Ziel. (K11)

SPIEGEL: Aber es geht jetzt an die Substanz.

Ahnen: Aus meiner Sicht nicht.

SPIEGEL: Die Schriftsteller sehen das ganz anders.

Ahnen: Es gibt Schriftsteller, die sich vor der Reform das Recht genommen haben, nach eigenen Regeln zu schreiben, und das tun sie nach der Reform auch. Das kritisiert niemand von uns.

SPIEGEL: Früher haben sich die Schriftsteller sehr wohl der Rechtschreibung, wie sie der Duden formuliert hat, angeschlossen. Weil der Duden nicht in die Sprache eingegriffen, sondern die Entwicklung der Sprache nachgezeichnet hat. Jetzt hat die Politik aber massiv eingegriffen.

Ahnen: Der Duden hat auch Neuerungen festgelegt. (K11)

SPIEGEL: Diese Neuerungen stammten aus empirischen Beobachtungen. Die Dudenredaktion hat sie sich nicht ausgedacht. Aus freien Stücken hätte sie niemals "schnäuzen" mit "äu" geschrieben.

Ahnen: Die Reform hat viele Veränderungen in der Schreibentwicklung aufgenommen. Das ist auch das einzig vernünftige Verfahren für die Zukunft. Genau das ist die Aufgabe des neuen "Rats für deutsche Rechtschreibung": beobachten, wie sich die Schriftsprache entwickelt, daraus Konsequenzen ziehen und Veränderungen ins Regelwerk einarbeiten. Was bisher geleistet wurde, war eine einmalige systematische Veränderung, die nach einer jahrzehntelangen Diskussion zu einem Ergebnis geführt hat. Und jetzt ist der Rat am Zuge. (K12)

SPIEGEL: 36 Mitglieder soll dieser Rat haben, jeweils 9 aus Österreich und der Schweiz, 18 aus Deutschland. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich immer damit gerühmt, wie plural der Rat besetzt sei. Aber unter den deutschen Sitzen sollten nur vier mit Reformgegnern besetzt sein, die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, das PEN-Zentrum (je ein Sitz) und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (zwei Sitze). Die beiden letzten haben dem Rat jetzt sogar eine Absage erteilt. Von Pluralität kann nicht die Rede sein. Darum sieht es so aus, als sollte der Rat das Bestehende lediglich bestätigen: eine Alibi-Veranstaltung.

Ahnen: Ich kann in diesem Rat keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse erkennen. Das Bild ist sehr differenziert. Es gibt jene, die die Reform befürworten, jene, die eine ambivalente Position haben, und jene, die die Reform kritisieren.

SPIEGEL: Aber die wollen ja nicht mitmachen, weil sie von der Reform grundsätzlich nichts halten oder dem Rat in seiner jetzigen Form nicht trauen.

Ahnen: Erstens ist für Pluralität schon dadurch gesorgt, dass Wissenschaftler, Sprachpraktiker, also Publizisten, Schriftsteller und Lehrer, vertreten sind. Zweitens gehe ich davon aus, dass, wer im Rat sitzt, weder so noch so eine lupenreine Position vertreten kann. Denn der Rat hat den Auftrag, Gemeinsamkeiten zu finden. Deswegen müssen sich die Leute bewegen. Darum bedaure ich die Absage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung massiv und habe dem Präsidenten der Akademie, Klaus Reichert, sofort ein Gesprächsangebot unterbreitet.

SPIEGEL: Aber Reichert will nur mit Ihnen reden, wenn ein Gespräch auf der Grundlage seiner Kritik am Rat möglich ist.

Ahnen: Ich halte es nach wie vor für sinnvoll, dass wir persönlich ins Gespräch kommen, möchte aber darauf hinweisen, dass es unüblich ist, für solche Gespräche Vorbedingungen zu stellen. (K13)

SPIEGEL: In einem Brief ermahnt Kulturstaatsministerin Christina Weiss die KMK, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, die Resultate des Rats stünden im Voraus fest. Außerdem dürfe der Rat nicht auf so wichtige Institutionen wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, das PEN-Zentrum und die Akademie der Künste, die gar nicht auf der Gästeliste steht, verzichten.

Ahnen: Wir werden um die Kritiker werben. Wir können den Rat aber nicht weiter vergrößern. Jeden Tag bieten uns andere Institutionen ihre Mitarbeit an. Es war eine schwierige Aufgabe, eine Auswahl zu treffen. Wir können aber auch den Rat nicht auf nur sechs Sitze verkleinern, wie es die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung vorschlägt. Es wäre ein großer Fehler, ein Gremium einzusetzen, in dem beispielsweise die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger keinen Platz hätten. Wir müssen ein plurales Spektrum einbinden.

SPIEGEL: Aber wie soll ein so großes Gremium auf die Schnelle zusammenkommen und arbeiten können? Bis zur verbindlichen Einführung der Reform am 1. August 2005 ist nur wenig Zeit.

Ahnen: Der Rat ist doch so frei, sich selbst Strukturen zu schaffen, um effizient zu arbeiten. Man kann zum Beispiel kleine Arbeitsgruppen bilden, die sich mit verschiedenen Aspekten der Reform beschäftigen.

SPIEGEL: Aber über die gesamte Reform darf der Rat gar nicht diskutieren. Die umstrittene Groß- und Kleinschreibung ist tabu.

Ahnen: Der Rat hat ganz allgemein die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung zu bewahren, die Rechtschreibung auf der Grundlage des neuen Regelwerks weiterzuentwickeln. Zusätzlich sind im Hinblick auf den relativ engen Zeitraum bis August 2005 von der Ministerpräsidentenkonferenz und der KMK einige Bereiche benannt worden, die vorrangig diskutiert werden sollen. (K13)

SPIEGEL: Und wenn die von Ihnen umworbenen Kritiker am Ende wirklich nicht mitmachen?

Ahnen: Wir brauchen den Rat. Er ist vernünftig konstruiert. Es geht doch darum, dass sich die Rechtschreibung auch in Zukunft weiterentwickeln kann. Es gibt keine Zielvorgabe. Das heißt, es können sich Dinge durchsetzen oder auch nicht. Wir wollen jetzt in einen politikfernen Prozess der kontinuierlichen Sprachentwicklung übergehen.

SPIEGEL: Hätte man diesen Rat nicht schon viel früher einsetzen müssen?

Ahnen: Erstens, es gab einen Beirat, der das Reformgremium beraten hat ...

SPIEGEL: Der Beirat ist von diesem Reformgremium nie ernst genommen worden.

Ahnen: In diesem Zusammenhang muss sich auch der Beirat selbstkritisch fragen, ob er seine Aufgabe mit der nötigen Intensität wahrgenommen hat. Zweitens fühlen sich Institutionen nur ernst genommen, wenn sie nicht nur angehört werden, sondern entscheiden können. Das kann der Rat jetzt. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung mit dem Beirat.

SPIEGEL: Einer der Reformpolitiker, der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair, hat schon vor Jahren gesagt, die Öffentlichkeit sei über die Rechtschreibreform so gut wie nicht informiert. Der Reformprozess war nicht demokratisch.

Ahnen: Es hat immer wieder öffentliche Anhörungen und Berichterstattungen gegeben. Nichtsdestotrotz will ich einräumen: Als klar wurde, dass die Reform umgesetzt werden würde, hätte man eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit betreiben müssen.

SPIEGEL: Frau Ahnen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Kommentare:

  1. Die Präsidentin führt gleich zu Beginn des Interviews ihre bornierte Strategie vor mit der Behauptung, die Einheitlichkeit der Schriftsprache sei "nicht ohne Grund zerstört worden." Gemeint ist, daß sie überhapt nicht zerstört worden sei, auch nicht ohne Grund. Jeder Leser aber weiß: Schon vor der "Reform" war die Schreibung nicht ganz einheitlich, gab es die deutsche Mehrheits- und die Schweizer Minderheitsorthographie; jetzt gibt es zusätzlich die zwangsreformierte Schulschreibung, die Hausorthographien etlicher Verlage und viele Schreibweisen, die die "Reform" bewußt oder aus Unkenntnis nur teilweise umsetzen. Die Einheit ist also definitiv zerstört.
        Die zitierte Feststellung Konrad Dudens, "Wir haben zwar die Rechtschreibung vereinheitlicht, aber noch nicht vereinfacht", widerspricht nicht der Zerstörung der orthographischen Einheit, sie hat mit ihr überhaupt nichts zu tun. Frau Ahnen entzieht sich so einer Begründung ihrer falschen Behauptung.
  2. Von "Wissen" um eine österreichische Studie kann keine Rede sein: Anders als die umfangreiche jahrelange Studie des Leipziger Pädagogikprofessors mit Hunderten von Schülern gab es in Österreich nur 1996/97 ein kleine Untersuchung am Wiener Gymnasium Sacré Cœur mit 27 Schülerinnen im Alter von 15 bis 16 Jahren. Alle 27 Mädchen gehörten zur gleichen Klasse desselben Jahrgangs derselben Lehrerin, und diese ist zugleich die Autorin der Studie.
  3. Sollte es tatsächlich nicht um die Vermeidung der meisten Fehler gegangen sein, warum sollte die Schreibung dann "leichter erklärbar" und logischer werden? Daß die Anzahl der Regeln reduziert worden sei, ist eine ebenso platte wie längst widerlegte Lüge, vielmehr wurde durch Neustrukturierung und vor allem durch Zusammenfassung (!) einzelner Regeln und Regelbereiche die Zahl der Richtlinien von 212 auf 136 gesenkt.
  4. Der Behauptung, niemand habe Probleme, einen Text zu verstehen, müssen die meisten Leser widersprechen, und die zitierten zwei bzw. 95 Prozent sind für die Lesbarkeit und Verständlichkeit schlicht irrelevant, die sprechen weder für noch gegen die Verständlichkeit. Natürlich ist das Verständnis in vielen Fällen weiterhin möglich, es gibt aber kaum noch Leser, die nicht schon auf einen schreibreformierten Satz gestoßen sind, den sie zwei- oder dreimal lesen mußten, bevor sie ihn verstanden, und etliche Sätze sind aufgrund reformierter Schreibung erwiesenermaßen mehrdeutig.
  5. Wenn Frau Ahnen den Vorwurf, die neuen Kommaregeln erschwerten das Verständnis, mit dem Hinweis pariert, "gerade bei den Kommata ist die Regelung freier geworden", dann gibt es dafür nur zwei Erklärungen: Entweder sie hat den Vorwurf der Redakteure, der ja auf das mangelnde Verständnis zielt, überhaupt nicht verstanden, oder sie ist tatsächlich der Meinung, freiere Regeln würden das Verständnis automatisch erleichtern, eine Erschwerung sei durch freiere Regeln also gar nicht möglich. Im ersten Falle hätte sie Probleme mit dem Hör- bzw. Leseverständnis (was durchaus im Pisa-Trend liegt), im zweiten hätte sie sich bewußt mit einer Lüge der Frage entzogen.
  6. Frau Ahnen hat nur insofern recht, als sich etwa die Bedeutung einer "vielsprechenden" bzw. "viel sprechenden" Politikerin durchaus individuell aus dem "Kontext" erschließen läßt: Wo die einen 'Qualität und Erfolg' sehen, lesen die anderen 'leeres Geschwätz'. Für echte Kommunikation hingegen sind nur Schreibweisen tauglich, die die Absicht des Schreibers möglichst unzweideutig wiedergeben.
        Wer Texte de facto schwieriger lesbar macht, der muß tatsächlich die Fähigkeit von Schülern stärken, solche Texte dennoch zu verstehen.
  7. Die von den SPIEGEL-Redakteuren zitierte unterschiedliche Schreibung von halbtrocken und halb tot ist natürlich widersprüchlich. Da auch Frau Ahnen sie nicht erklären kann, weicht sie wiederum auf ein anderes Beispiel aus und behauptet, mit der neuen Rechtschreibung könne man jetzt von Platz das Verb platzieren logisch ableiten. Das ist gleich in dreifacher Hinsicht Unsinn:
  8. Woher will denn Frau Ahnen wissen, daß diese 11 Prozent nicht doch wieder rückumgestellt haben? Tatsächlich gibt es etliche Schreiber, die einem von Behörden und Medien ausgeübten Druck folgend zaghaft und ohne innere Überzeugung angefangen hatten, die Schulschreibung nachzuahmen – oft nur durch das Ersetzen des ß durch ss. Aufgrund der erneuten Debatte und teilweisen Rückumstellung der Presse sind sie nun wieder zu ihrer gewohnten und bevorzugten Schreibweise zurückgekehrt.
  9. 70% der Unternehmen haben umgestellt? Wenn also etwa ein Unternehmen mit 1.000 Angestellten umstellen läßt, dann ist das nach Meinung von Frau Ahnen bedeutender als das Festhalten von 1.000 Privatpersonen an der konventionellen Rechtschreibung. Es ist schon bemerkenswert, daß ausgerechnet (?) eine führende SPD-Politikerin das Zensus-Wahlrecht wieder einführt – wenn auch (zunächst) nur für Umfragen.
        Die Umstellung auf die zwangsreformierte Schulschreibung ist im übrigen kein Votum für diese "Reform", da Unternehmen in aller Regel nicht aus Überzeugung umstellen, sondern ganz unreflektiert, um einem vermeintlichen Trend zu folgen und nicht als altmodischer Außenseiter dazustehen.
  10. Daß an die 70 Prozent der (meist wahlberechtigten) Schreibgemeinschaft gegen die "Reform" sind, ficht die Ministerin überhaupt nicht an, weil "zwölf Millionen Schüler seit 1998" keine vernachlässigbare Größe seien. Das liest sich wie die Worte eines SED-Schranzen, der dem "imperialistischen Westen" 17 Millionen überzeugte DDR-Sozialisten entgegenstellt. Hatten die Schüler (oder ihre Eltern) etwa die Wahl? Jede 5jährige und jeder 6jährige würde doch auf die Frage nach der Schriftsprache antworten, daß sie bzw. er so schreiben wolle wie Mama und Papa. In den ersten Jahren schreiben sie auch noch weitgehend wie ihre Eltern, da die "Reform" in der Grundschule noch kaum greift. Grundschüler eignen sich also als Zeugen für die KMK-Präsidentin ebenso wenig wie Kinder im Vorschulalter.
        Andererseits gibt es nach sechs bzw. acht Jahren staatlich befohlenem Kindesmißbrauch seit 1996/98 natürlich viele Kinder, die aus naheliegenden Gründen keine Lust haben, sich der Mühe des Schreibenlernens noch einmal zu unterziehen, und auch etliche Eltern fürchten eine Verwirrung und Überforderung. Typischerweise gehen sie dabei auf die vermeintlichen Vorzüge der "Reform" meist gar nicht ein.
        Sie werden darin durch verlogene Argumente der "Reformer" bestärkt: Einerseits sei die Reform zumutbar (gewesen), weil "nur zwei Prozent der Wörter" von ihr betroffen seien, und bei "95 Prozent" dieser Wörter gehe es um die neue Doppel-s-Schreibung; andererseits sei eine Rückkehr zur konventionellen Rechtschreibung aber für die Schüler "unzumutbar" – zwei Prozent hin oder her. Die Eltern, die ihr sprachliches Erziehungsrecht eingebüßt haben, müssen sich heute von Frau Ahnen anhören, sie hätten "Wichtigeres" zu tun, als sich mit der "Rechtschreibreform" zu befassen.
  11. Wenn "immer weniger" Menschen in die Lage versetzt werden konnten, die Rechtschreibung sicher zu handhaben, dann muß es einen Prozeß gegeben haben, in dem die Rechtschreibung im Laufe der letzten Jahrzehnte immer schwieriger wurde. Oder wurden die Menschen in den letzten Jahrzehnten etwa immer dümmer?
        Etwas ist dennoch dran an der Aussage der Ministerin: Wie sie etwas später sagt, hat der Duden tatsächlich "auch Neuerungen festgelegt", er wurde im Laufe seiner Geschichte mit Rad fahren und autofahren, zugunsten und zu Lasten etc. um einige "Ausnahmeregelungen und Sondertatbestände" ergänzt, die nicht deskriptiv den tatsächlichen Schreibstand dokumentierten, sondern willkürliche, präskriptive Festlegungen der Duden-Redaktion waren. Es ist Ausdruck von Perfidie, mit diesen eigenen Fehlern nun eine "Rechtschreibreform "zu begründen.
  12. Seit der Erfindung des neuen "Rats für deutsche Rechtschreibung" ist das deskriptive plötzlich wieder "das einzig vernünftige Verfahren für die Zukunft: beobachten, wie sich die Schriftsprache entwickelt, daraus Konsequenzen ziehen und Veränderungen ins Regelwerk einarbeiten." Warum also haben es die Kultusminister nicht von vornherein dabei belassen? Die Antwort liegt auf der Hand: weil ihnen (bzw. den beauftragten Beamten) das Ergebnis der überwiegend natürlichen Sprachentwicklung nicht paßte. Die jetzt vorliegenden chaotischen Ergebnisse einer "jahrzehntelangen Diskussion" kamen folglich nicht in der deutschen Schriftgemeinschaft zustande, sondern in einem elitären Club, der offiziell nur für die Schule zuständig ist, aber ständig auf die gesamte Sprachgemeinschaft schielt.
        Wenn es tatsächlich Aufgabe des Rechtschreibrates ist, einerseits die Schriftsprache zu "beoabachten" und sie andererseits "auf der Grundlage des neuen Regelwerks weiterzuentwickeln", dann ist dies logischerweise nur zu leisten, wenn sich das "Beobachten" auf die Entwicklung der zwangsreformierten Schulschreibung beschränkt und das mehrheitliche Schreibverhalten der Bevölkerung einfach ausblendet.
  13. Es sei "unüblich", meint die Präsidentin an die Adresse der Kritiker des "Rats für deutsche Rechtschreibung", für ihre Teilnahme Vorbedingungen zu stellen. Für sie selbst gilt das freilich nicht: Der Rat ist nicht frei, sondern soll – wie gesagt – die Rechtschreibung "auf der Grundlage des neuen Regelwerks" weiterentwickeln. Diese Aufgabenstellung sollen die Kritiker ebenso akzeptieren wie die Zusammensetzung des Rates, der nicht für weitere Kritiker geöffnet werden soll. Dieses Argument erinnert an eine Aussage von Fidel Castro, Oppositionsblätter könnten deshalb nicht erscheinen, weil die Ressourcen Kubas nicht mehr Papier zur Verfügung stellten.

Das verbissene Leugnen der Doris Ahnen erinnert an einen längst Überführten, der selbst (bzw. gerade) angesichts einer erdrückenden Beweislast alles abstreitet und sich weigert, selbst die Beweise zu sehen, die physisch vor ihm auf dem Tisch liegen. Mancher schafft es dann gar, sich schließlich selbst zu überzeugen, er sei unschuldig. Es fällt schwer, im Falle der KMK-Präsidentin keine medizinische Diagnose zu stellen.
    Aber auch die politische Diagnose fällt verheerend aus: Nicht genug damit, daß Kindern durch staatlichen Zwang eine vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende Schrift aufgezwungen wird und ihre Eltern ohnmächtig dabei zusehen müssen: Die Opfer der "Reform" werden gar von Frau Ahnen zu ihren Befürwortern und Profiteuren umgedeutet. Die übergroße Ablehnung der "Reform" in der Bevölkerung wird konsequent geleugnet, was ihre Mißachtung und damit die Mißachtung der Demokratie schlechthin noch vergrößert. Selbst die alltäglich erfahrbare Uneinheitlichkeit der Schriftsprache leugnet Frau Ahnen – ebenso wie die staatlich verordnete, also totalitäre Änderung von Wortbedeutungen, denn "wenn man liest, erschließt sich das Verstehen im Zusammenhang."

Dumm für den SPIEGEL ist, daß dieses Interview nicht einmal ein symbolisches Entgegenkommen der Kultusminister erbrachte, auf das der Verlag sein peinliches Festhalten an der Reform stützen könnte ...


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