konventionell | zwangsreformiert |
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Dienstag morgen · heute mittag · gestern abend am Montagabend · der Dienstagmorgen |
Dienstag Morgen · heute Mittag · gestern Abend weiter: am Montagabend · der Dienstagmorgen |
des weiteren · des öfteren bei weitem (nicht) · seit kurzem in folgendem · in grau · |
des Weiteren · des Öfteren weiterhin: bei weitem (nicht) · seit kurzem aber wieder: in Folgendem · in Grau |
der dritte der Dritte mit Fünfzig · in die Siebzig |
der Dritte mit fünfzig · in die siebzig |
das erste Mal das erstemal | das erste Mal |
Du, Dich, Dir, Ihr, Euch du, dich, dir, ihr, euch | du, dich, dir, ihr, euch (auch: die deinen) |
konventionell differenziert | zwangsreformiert jetzt nur noch |
leid und Leid tun · Not und not tun in/auf (gut) deutsch in/auf (gut) Deutsch erste und Erste Hilfe · letzte und Letzte Wille |
Leid tun · not tun in/auf (gut) Deutsch erste Hilfe · letzte Wille (s. Rätselecke) |
Die Groß- und Kleinschreibung setzt sich aus mehreren Regeln zusammen:
Nach Adverbien wie heute, gestern, morgen etc. werden die Tageszeiten (morgen, mittag, abend) konventionell klein geschrieben, da Adverbien (anders als Adjektive) keine Substantive näher bestimmen können. Die genannten Tageszeiten sind also eindeutig ebenfalls Adverbien, die klein geschrieben werden müssen.
Jetzt sollen die Tageszeiten mit Ausnahme von früh immer groß geschrieben werden, weil es auch den Morgen etc. gibt, der ja ein Hauptwort (Substantiv) ist. Wie aber soll man schreiben, wenn man nicht "am nächsten Samstagabend", sondern einfach "Samstagabend" kommen möchte? Sollte man das wirklich groß und zusammenschreiben?
Genaugenommen entsteht durch die ungrammatische Großschreibung kein Rechtschreib-, sondern ein Grammatikfehler: Dem Satz Sie ist heute Morgen unterwegs mit groß geschriebenem Hauptwort Morgen fehlt ein Verhältniswort (Präposition), richtig lautet er: Sie ist am heutigen Morgen unterwegs oder Sie ist heute am Morgen unterwegs. Ein Lehrer, der ein Adverb zum groß zu schreibenden Substantiv (Hauptwort) erklärt und die Präposition wegläßt, begibt sich auf das Niveau jener Schülerin, die, dem Autor gegenüber in der S-Bahn sitzend, einen Anruf bekam, ihr Handy aufklappte und sagte: "Ich bin Oberbilk." (Oberbilk ist ein Düsseldorfer Stadtteil.)
Nicht verkannt werden soll, daß einige Substantive, nämlich Wochentage, auch ohne Präposition zur Angabe der Zeit üblich sind: Letzte Woche Montag hatten wir keine Zeit, aber Freitag kommen wir Dich besuchen! Niemand – auch nicht die "Reformer" – würden aber schreiben: *April fahren wir in Urlaub. oder *Abend gehen wir ins Kino. Wenn dieses groß geschriebene Abend falsch ist, dann ist es auch nach einem Adverb wie heute falsch. Morgen gehen wir joggen ist zwar möglich, aber natürlich nur dann, wenn Morgen nicht die Tageszeit, sondern den nächsten Tag bedeutet.
Die dekretierte vorsätzlich falsche Großschreibung von Adverbien ist also nicht nur ein linguistisches bzw. grammatisches Problem, sondern auch ein Politikum: Lassen wir uns vom Staat vorschreiben, welcher Wortklasse ein Wort angehört? Ist im deutschsprachigen Europa wieder Raum für eine Politisierung bzw. (im übertragenen Sinne) "Arisierung" der Wissenschaft? Vor allem für den Deutschlehrer stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob er sich noch als Germanist und Pädagoge versteht und Ethos und Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre lebt und verteidigt, wie sie das Grundgesetz schützt oder einfach als Propagandist der Kultuspolitik und -bürokratie.
Die angebliche Regel, daß substantivierte Adjektive und Partizipien nun groß zu schreiben seien, erweist sich als widersprüchlich und somit unlernbar:
Regel: Als Nomen gebrauchte Adjektive und Partizipien werden groß geschrieben | des Weiteren, des Öfteren, Verschiedenes zu tun haben ... |
Ausnahme: § 58 (3): in "festen Verbindungen" nach Präposition ohne Artikel klein | bei weitem (nicht), seit kurzem, über kurz oder lang, durch dick und dünn, von fern, von klein auf ... |
Ausnahme v. d. Ausnahme: § 58 (3) E2: groß bei Substantivierungen auch ohne Präposition | im Großen und Ganzen, in Folgendem, in Letzterem, auf Deutsch, in Grau, in Weiß liefern, für Jung & Alt ... |
Quasi-Ausnahme von der Ausnahme von der Ausnahme: als "feste Verbindungen" wieder klein | grau in grau, schwarz auf weiß ... |
Großschreibungen nach Präpositionen mit eingebautem Artikel (im, beim etc.) erzeugen Irritationen, wenn man über die Bedeutung der zwangsweise substantivierten Adjektive nachdenkt bzw. diese wörtlich nimmt: Was soll denn in Beispielen wie im Großen und Ganzen 'der oder das Große' sein? Soll hier die Schreibung der Wörter von ihren Bedeutungen abgekoppelt werden und dies auch noch ohne stringente Regel?
Um es einmal in unlogischem "Reformdeutsch" zu schreiben: Was die Reformer an Regeln zum Besten geben, geschieht nicht zum Besten unserer Kinder. Am besten ignoriert man den ganzen Unsinn! Das amtliche Regelwerk versucht in § 58 (2) E1, diesen Unterschied plausibel zu machen:
Superlative mit »am« gehören zur regulären Flexion des Adjektivs; »am« ist in diesen Fügungen nicht in »an dem« auflösbar. Beispiele:
Dieser Weg ist steil steiler am steilsten. Dieser Stift schreibt fein feiner am feinsten.
Sofort anschließend heißt es aber:
In Anlehnung an diese Fügungen kann man auch feste adverbiale Wendungen mit »aufs« oder »auf das», die mit »Wie?« erfragt werden können, kleinschreiben, zum Beispiel:
Sie hat uns aufs/auf das herzlichste begrüßt (Frage: Wie hat sie uns begrüßt?). Der Fall ließ sich aufs/auf das einfachste lösen.
Hier läßt sich das aufs auflösen aber was soll's, wenn sofort noch eine Ausnahme folgt:
Superlative, nach denen mit »Woran?« (»An was?«) oder »Worauf?« (»Auf was?«) gefragt werden kann, schreibt man nach § 57(1) groß, zum Beispiel:
Es fehlt ihnen am/an dem Nötigsten. (Frage: Woran fehlt es ihnen?) Wir sind aufs/auf das Beste angewiesen. (Frage: Worauf sind wir angewiesen?)
Mit Sprachennamen wie Deutsch ist die Sachlage etwas kompliziert: Bislang wurde sich auf (gut) deutsch oder in deutsch ('in deutschem Wortlaut, im Klartext, unmißverständlich') unterhalten und ausgedrückt und zugleich in Deutsch und Englisch ('in den Sprachen Deutsch und Englisch') geschrieben und gesprochen. Der Unterschied ist nicht ganz einfach zu verstehen oder zu vermitteln. Die neue Regelung verlangt hier eine einheitliche Großschreibung nach Präpositionen (Verhältniswörtern) wie "auf", "in", "mit", "ohne" etc.
Dafür könnte man aus präskriptiver Sicht noch Verständnis aufbringen, wenn dieses Prinzip allgemeine Gültigkeit hätte, also nicht nur auf Sprachennamen angewendet würde. Genau das ist aber weder zu begründen noch mit den den neuen, präskriptiven Regeln beabsichtigt. Aus wissenschaftlicher (deskriptiver) Sicht sollte man einfach beide Schreibweisen akzeptieren und dokumentieren, wohin der Trend geht.
Bisher soll zwischen der Rang- und der Reihenfolge unterschieden werden: der "dritte" in der Reihen- und der "Dritte" qualitativ in der Rangfolge. Jetzt soll nach dem Artikel (der · die · das) immer groß geschrieben werden. Nicht mehr die Bedeutung (Rang- oder Reihenfolge?) soll also künftig entscheiden, sondern nur noch die Form (Ordnungszahl nach Artikel). Damit geht ein Stück sprachlicher, genauer: schriftlicher Differenzierung verloren, denn hören kann man den großen ersten Buchstaben natürlich nicht.
Bisher schreibt man normale Zahlen (Kardinalzahlen) nach Präpositionen (Verhältniswörtern) bzw. Artikeln groß: "mit Vierzig", "über Vierzig", "in die Fünfzig". Jetzt sollen solche Ausdrücke plötzlich klein geschrieben werden, was die Regeln oben konterkariert. Wer soll das verstehen?
Bisher kann man "das erste Mal" und "das erstemal" schreiben; nun soll nur noch die erste Variante mit großem "Mal" gültig sein. Dies ist eine der wenigen konsequenten Regeln der Reform, sie ist allerdings nicht wirklich notwendig, da die alte Regel ja tolerant genug war, zwei Schreibweisen zuzulassen, die Bewertung, was recht geschrieben sei, also der Schreibgemeinschaft überließ.
Der alte Duden empfiehlt unter R 71: Das Anredepronomen in Briefen wird groß geschrieben.
Diese Regel gilt für alle Fürwörter der 2. Person in Singular und Plural und allen Fällen, also Du, Dich, Dir, Ihr, Euch, und ihre Possessivadjektive ('besitzanzeigenden Eigenschaftswörter', also Dein, Deine, Euer, Eure). Der Duden sagt:
Liebe Silke,
ich hoffe, daß es Dir und Euch allen gutgeht und daß Du Deine Ferien an der See angenehm verlebst ....
Dasselbe gilt auch in feierlichen Aufrufen und Erlassen, Grabinschriften, Widmungen, Mitteilungen des Lehrers an einen Schüler unter Schularbeiten, auf Fragebogen, bei schriftlichen Prüfungsaufgaben usw.
[...]
Bei der Wiedergabe von Reden, Dialogen u.ä., in Protokollen, Prospekten, Lehrbüchern u.ä. wird jedoch klein geschrieben.
Liebe Freunde! Ich habe euch heute zusammengerufen ... Lies die Sätze langsam vor. Wo machst du eine Pause?
Welchen Grund hat diese Bestimmung was unterscheidet Briefe, Aufrufe, Erlasse, Grabinschriften, Widmungen etc. einerseits und Reden, Protokolle, Lehrbücher etc. andererseits? Natürlich hängt die Schreibung eines Wortes nicht von der Textsorte ab – die Aussage, bei Hofe sei ein Hofknicks angemessen, meint schließlich auch nicht den Ort, sondern bestimmte adelige Persönlichkeiten. Die Auswahl dieser Textsorten ist also nur das Ergebnis (die Konkretisierung) einer zugrundeliegenden Regel, die zwei verschiedene Bedeutungen beschreibt und die der alte Duden leider nicht explizit nennt:
Offensichtlich gelten die groß geschriebenen vertraulichen Anredepronomen (Du, Dich, Dir, Dein etc.) für die direkte schriftliche Ansprache dem Schreiber persönlich bekannter Personen, klein geschriebene (du, dich, dir, dein etc.) hingegen für die schriftliche Wiedergabe mündlicher Anrede Dritter (Zitate in Reden, Dialogen etc.) und für die unpersönliche bzw. anonyme schriftliche Ansprache eines unbekannten Personenkreises.
In der jahrzehntelangen Praxis wurde und wird allerdings auch in Zitaten meist die Großschreibung ("Du" etc.) verwendet, offenbar um den persönlichen Charakter der Anrede auch durch Dritte beizubehalten.
Während also der natürliche Trend zur Großschreibung der Anredepronomen und -adjektive ging und geht, trat die Kleinschreibung in direkter persönlicher Anrede (die dann eigentlich keine mehr ist) eher selten und dann meist als Folge einer Rechtschreibschwäche auf; erst neuerdings ist eine vorsätzliche Kleinschreibung und damit Herabwürdigung des Lesers als Ausdruck von Mitläufertum mit der "Schreibreform" zu beobachten.
Der Trend geht zum groß geschriebenen Anrede-Fürwort: "Laß es Dir schmecken", und "ärgere Dich nicht!" |
Die genannte Regel bzw. Praxis basiert auf der Tatsache, daß es im Deutschen sowohl in der 2. wie in der 3. Person Personalpronomen bzw. Possessivadjektive der persönlichen Anrede gibt, deren Bedeutung nicht durch ihre Lautung, sondern durch ihre Schreibung und den situativen Kontext zum Ausdruck gebracht wird. Angegeben sind in der folgenden Tabelle jeweils die Grundform (Nominativ), die direkte und indirekte Objekt-Form (Akkusativ und Dativ), das reflexive (rückbezügliche) Pronomen, sofern es sich von der Dativ-Form unterscheidet, und die possessive bzw. besitzanzeigende Form (Genitiv). Die persönlichen (definiten, individualisierten) Formen sind blau markiert:
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Die folgende Tabelle verdeutlicht noch einmal die komplexen Funktionen bzw. Bedeutungen der deutschen Anrede-Pronomen; sie nennt nur die Grundformen für eine und mehrere Personen: Das du ist das vertrauliche Gegenstück zum man, so wie das Du das vertraute Pendant zum Sie ist.
Die (vom Manne = 'Mensch' abgeleitete) man-Form scheint allerdings etwas aus diesem Schema zu fallen: Einerseits ist sie kein klein geschriebenes Sie, sondern eine eigenständige Form. Andererseits wird sie als distanzierte Form der 3. Person (die ja in derselben Schreibung auch außerhalb von Anreden Verwendung findet) in so hohem Maße als unpersönlich empfunden, daß man statt man in Bedienungsanleitungen, Kochbüchern ("Man nehme ...") etc. häufig das eigentlich persönliche und daher weiter groß geschriebene Sie benutzt.
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Nach 1996 sollten die Duz-Formen plötzlich alle klein geschrieben werden d. h. fast alle:
Diese Regelungen verraten nicht nur ein mittelalterliches Gesellschaftsbild, sie zeigen auch, daß die "Reformer" die tatsächliche Bedeutung der Anredepronomen überhaupt nicht verstanden haben und ihre eigene Muttersprache nicht kennen. Was die Duden-Redaktion auf ihrer Internet-Präsenz bezeichnenderweise unter der falschen Überschrift "Die Höflichkeitsgroßschreibung" schreibt, erzeugt den Eindruck, sie falle auf ihre eigene laienhafte Regel herein:
"Bei Pronomen, die für Personen stehen, welche man duzt (= 2. Person Einzahl und Mehrzahl), musste man bisher unterscheiden: In Briefen und briefähnlichen Texten schrieb man groß, sonst klein. Damit war zum einen eine erhebliche Unsicherheitszone geschaffen. Gehören beispielsweise Anweisungen in Schulbüchern zu den briefähnlichen Texten oder nicht? Zum andern ist die Großschreibung gar nicht angemessen: Duzt man jemanden, so besteht kein Anlass, durch Großschreibung besondere Ehrerbietung zu bezeugen. Neu schreibt man daher nur noch klein: [...]"
Um bestimmte Textsorten (Briefe, Erlasse etc., also formale Kriterien) oder "besondere Ehrerbietung" geht es, wie gesehen, überhaupt nicht, sondern um persönliche, definite Anrede im Gegensatz zur unpersönlichen, indefiniten bzw. anonymen also um die Bedeutung des Pronomens. Die Aussage des Dudens, einem Duz-Freund gegenüber sei keine "besondere Ehrerbietung zu bezeugen", bedeutet im Umkehrschluß, ein Siez-Partner verdiene eine solche "besondere Ehrerbietung" durchaus. Welch ein Menschenbild offenbart sich da? Wenn Ehrerbietung überhaupt der richtige Begriff ist, dann als die ganz normale Ehrerbietung, mit der höfliche Menschen einander persönlich anschreiben unabhängig von einer vertrauten oder distanzierten Form!
Aus linguistischer Sicht ist folglich schon die Formulierung falsch, das Du, Dein etc. sei klein zu schreiben: Das persönliche Du kann, wie gesehen, in Wahrheit schriftlich gar nicht anders, nämlich in Kleinschreibung wiedergegeben werden da es nur auf der schriftlichen (nicht lautlichen oder kontextuellen) Ausdrucksebene existiert und wahrgenommen wird, würde es durch Kleinschreibung völlig verschwinden, denn ein klein geschriebenes "du" mit anderer (unpersönlicher bzw. anonymer) Bedeutung gibt es ja schon! Die "Reform" versucht also nichts anderes, als das persönliche Du aus der deutschen Schriftsprache zu eliminieren, es zu verbieten. (Warum versucht der Staat eigentlich im Zuge vermehrter Großschreibung nicht umgekehrt, das unpersönliche du zu liquidieren? Und warum läßt man nicht per Erlaß z. B. Lerche als "Lärche" schreiben?)
Wer sich diesem Verbot beugt und in persönlichem Anschreiben klein "duzt", schreibt also nicht etwa das persönliche, höfliche Du klein, sondern verwendet ein ganz anderes Wort, nämlich das unpersönliche und daher im persönlichen Kontext unhöfliche du, das einen anonymen Adressaten konnotiert! Der Empfänger eines solchen Schreibens hat nach der deutschen Schriftkonvention keinen Anlaß, sich angesprochen zu fühlen. Wer ihm/ihr nahestehende bzw. vertraute Menschen mit dem anonymen du brüskiert, müßte weniger vertraute Menschen konsequenterweise mit dem ebenso anonymen man statt Sie ansprechen.
Entscheidend für Kommunikation ist bekanntlich nicht, was angeblich gemeint wird, sondern wie die Textlinguistik lehrt das, was beim Empfänger der Botschaft ankommt, was verstanden wird. Die Bedeutung eines Wortes wird in der Kindheit geprägt und gilt in der Regel lebenslang. Daher interpretieren gebildete Menschen z. B. ein großes "Gut" als 'Besitz' oder 'inneren Wert' (oder eine 'Schulnote'), ein kleines "gut" als Gegenteil von 'schlecht' und ein "Sie" anders als ein "sie" und reagieren auf ein kleines du mindestens irritiert, wenn nicht beleidigt. Die Bedeutung eines Wortes (hier: du) per Erlaß ändern zu wollen, ist eine bestenfalls naive, schlimmstenfalls aber totalitäre, orwellsche¹ Vorstellung ( "Linguistik" und Rätselecke).
Original und Fälschung |
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Unklar ist, wie die Urheber der "Reform" glauben, ausgerechnet in einem so persönlichen Kontext wie einem Brief an einen Duz-Freund Einfluß auf die Rechtschreibung auszuüben. Ist es nicht Privatsache jedes einzelnen Schreibers, ob er in privaten Schriftstücken und eMails mit Zustimmung seines Briefpartners (!) groß oder klein duzt? Und würde sich ein gebildeter, selbstbewußter Mensch dazu nötigen lassen, seine verstorbenen Eltern auf ihrem Grabstein mit kleinem du oder dein wie anonyme Fremde zu behandeln, also zu beleidigen?
Problematisch wird die Kleinschreibung allerdings im innerbetrieblichen Schriftverkehr: Wer hier einen Arbeitskollegen per kleinem du als Teil einer anonymen Masse be- bzw. mißhandelt, weil er Pöbeleien mit staatlicher Rückendeckung chic findet, braucht sich über eine entsprechende Reaktion (bzw. ausbleibende Reaktion auf sein Schreiben) nicht zu wundern. Das vermeintliche schriftsprachliche Anrede-"du" läßt sich mit einem gestischen Gruß vergleichen, dem "Deutschen Gruß" des 3. Reiches: Der mit ausgestrecktem Arm "Gegrüßte" tat damals gut daran, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Solche Zeiten sollten heute vorbei sein. Ermutigend ist, daß sich u. a. die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen dieser Instinktlosigkeit schon früh widersetzt haben: In ihrem Beschluß vom 10.6.1999 stellten sie im Abschnitt "D. Groß- und Kleinschreibung" unter Punkt 9 fest:
"Die vertraulichen Anredepronomen werden von den Agenturen weiterhin groß !!! geschrieben."
Das kleine du ist somit die Erkennungsmarke nicht nur einer um sich greifenden eMail-Graphie, sondern nicht zuletzt einer willfährigen, unreflektierten Lehrerschaft und fanatischer Sprachmodernisten, und zwischen beiden Gruppen gibt es durchaus eine Überlappungszone. Seit dem Sommer 2006 können sich Sprachfälscher allerdings nicht einmal mehr auf staatlichen Zwang berufen, dem man sich beugen müsse, da die groß geschriebenen Fürwörter direkter Anrede Du, Dich, Dir etc. seither wieder zugelassen sind: Die "Reform der Reform" von 2006 geht davon aus, daß sich der zunächst verordnete Unsinn nicht durchsetzen läßt, macht aber nur einen halben Rückzieher: Sie erlaubt beide "Varianten". Der neue Duden (der die offiziellen Korrekturen von 2006 nach Aussage des Vorsitzenden des Rats für deutsche Rechtschreibung bekanntlich teilweise hintertreibt) erklärt in einem Kasten auf Seite 337: "In Briefen kann das »du« groß- oder kleingeschrieben werden." Das allerdings konnte man vor der "Reform" auch schon: mit zwei verschiedenen Bedeutungen!
Briefmarke der Deutschen Post von 2001 "für Dich": | |
1 Gemeint ist der weltberühmte politische Roman 1984 von George Orwell, der ein totalitäres Regime, den Überwachungsstatt des "Big Brother" beschreibt. Ein Mittel der Unterdrückung und Manipulation ist "Newspeak", die 'Neusprache', deren Wörtern der Staat nach "Bedarf" neue Bedeutungen zuweist. |
Die Klein- und Großschreibung in Wortgruppen ist aus drei Gründen unsinnig geregelt:
Auch hier muß sich ein Pädagoge wieder zwischen Wissenschaft und Lehre einerseits und (falscher) Loyalität andererseits entscheiden: Wer im Grammatikunterricht ein Wort korrekt als Adverb definiert und dann seine Großschreibung anmahnt, wird auch sich selbst gegenüber unglaubwürdig! Konrad Duden selbst hat übrigens seinerzeit die grammatischen Verhältnisse eindeutig beschrieben:
Bei Ausdrücken wie 'leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein, mir ist angst, wohl, wehe, not' ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; man erkennt die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt 'er [...] hat ganz recht, hat vollständig unrecht' u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat. (Die Zukunftsorthographie. Leipzig, 1876)
Zu Sprachennamen und zu Punkt 4 sollte man in Anpassung an den demokratischen Sprachgebrauch Toleranz walten lassen. Die übrigen Punkte insbesondere 5 und 6 sollte ein deskriptives Wörterbuch ebenso wie jeder deutschsprachige Mensch entschieden ablehnen.
Hinweis: Wie einleitend erwähnt, werden hier die Regeln aus den Anfangsjahren, nicht möglicher späterer Revisionen der "Rechtschreibreform" besprochen.
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