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Schrift

1. Ursprung der Schrift

Prinzipien Prinzipien · Einflüsse Einflüsse
Funktion Funktion · Quintessenz Quintessenz
 
Die Visualisierung und Konservierung von Schrift auf Stein, Tontafeln, Papyrus etc. trat in der Entwicklung des Menschen erst recht spät auf, sehr viel später jedenfalls als seine Laut- und Gebärdensprachen. Schrift ist allerdings die Voraussetzung für seine Geschichte, da sich Ereignisse mündlich nur begrenzte Zeiten lang und oft nur in einer Sprachgemeinschaft überliefern lassen. Am Anfang stand das, was wir heute als Piktogramme bezeichnen: "sprechende" Bilder bzw. Bildzeichen, die etwa in Flughäfen Reisenden unabhängig von ihrer jeweiligen Sprache mitteilen, wo es zur Information, zur Gepäckabholung, zur Toilette etc. geht. Es bedarf nicht übermäßiger Phantasie, z. B. ein Schriftzeichen in Form einer Zickzack-Linie als 'Wellen' bzw. 'Wasser' zu interpretieren, und tatsächlich wird dieses protosemitische Wassersymbol als Ursprung zunächst des phönizische Silbenzeichens mem und später des ähnlichen Buchstabens M betrachtet. Es folgten die Ideogramme: zunehmend abstrakte Bilder (Symbole), die nicht mehr mit konkreten Objekten, sondern mit bestimmten Vorstellungen, Ideen konventionell assoziiert werden. Piktogramme, Ideogramme und weitere abstrakte Symbole werden manchmal als Logogramme zusammengefaßt, aber auch von diesen unterschieden, da Logogramme auf der Formebene Morphemen entsprechen und somit keine komplexen Bedeutungen tragen.
    Für heutige Sprachforscher und Historiker haben logographische Schriften den Vorteil, daß z. B. alte Hieroglyphen-Texte auch dann gelesen werden können, wenn die Sprache ihrer Schreiber nicht oder nur teilweise bekannt ist: Bilder geben allenfalls begrenzte Auskunft über die Struktur (Grammatik) einer Sprache, nicht über ihren Wortschatz, Endungen, Lautung (Phonetik) etc. Der Nachteil solcher Schrift ist die große Menge notwendiger Schriftzeichen, die mit der Dynamik einer lebenden Sprache nur schwer mithalten können und bald dazu neigen, nicht mehr nur für Begriffe, sondern auch für Silben zu stehen, aus denen wieder neue Wörter für neue Begriffe zusammengesetzt werden können.

Ca. 1500 vor Christus entwickelten die Phönizier eine alphabetische Schrift, die zunächst nur aus Silbenbuchstaben bestand, also aus Zeichen für Konsonanten plus Vokal. Aus dieser Silbenschrift entstand eine reine Konsonatenschrift, deren Mitlautbuchstaben (Konsonantengrapheme) allmählich um Buchstaben für Selbstlaute (Vokalgrapheme) ergänzt wurden. Ab ca. 700 n. Chr. entwickelten die Griechen das phönizische Alphabet zu einem vollständigen phonetischen Alphabet, das nun alle Konsonanten und Vokale getrennt darstellte. Im westlichen Kulturkreis stehen daher – ausgehend vom Nahen Osten – die Schriftzeichen seit der Antike nur noch für Laute (Phonographie), was folgende Konsequenzen hat(te):

2. Schreibprinzipien

Wichtig ist hier besonders der dritte Punkt: die Willkürlichkeit und Konventionalität der Schrift, denn jene tendieren dazu, sich im Laufe der Sprachgeschichte von einzelnen schriftlichen Zeichen bzw. Buchstaben wieder zu geschriebenen Wörtern und schließlich sogar dem schriftlichen Ausdruck insgesamt hin auszudehnen (und so den Eigenschaften der alten Ideogramme zu entsprechen):

Graphische Bedeutungsträger:
Bilder > Silbenzeichen > Lautzeichen (Buchstaben) > Wörter > Text

Die heutige Schreibung eines Wortes ist nicht mehr die Summe seiner einst "korrekt" durch Buchstaben dargestellten Laute, sondern nur noch Tradition und Konvention. Für Schreibanfänger ist sie umso willkürlicher und unvorhersagbarer, je mehr sich die Lautung einer Sprache von ihrer Schreibung entfernt hat. Die Schriftsprache konserviert aber nicht nur alte Lautverhältnisse, sie emanzipiert sich durch eigene Konventionen (etwa die der Zeichensetzung oder Schriftfonts) auch von der gesprochenen Sprache, und irgendwann bildet ein geschriebener Text sogar ein eigenes Sprachregister und besteht aus anderen Wörtern und gehorcht anderen grammatischen Regeln als ein gesprochener! Das in der Entwicklung unserer Buchstabenschriften in einem frühen Stadium einmal sehr enge Laut-Buchstaben-Verhältnis geht also schleichend wieder verloren. Das mag mancher Zeitgenosse bedauern, hat aber einen Vorteil, den schon die alten logographischen Schiftsysteme hatten: Orthographisch standardisierte Texte lassen sich auch nach Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten noch verstehen. Dieses Verständnis ist gefährdet, sobald man versucht, die Schrift wieder näher an die zeitgenössische, also zwischenzeitlich weiterentwickelte Lautung der Sprache heranzuführen.

Vier Prinzipien sind es, nach denen ein Schreiber bewußt oder unbewußt für sich selbst oder für eine ganze Schreibgemeinschaft entscheidet, wie ein Wort zu schreiben sei – und alle vier Prinzipien wirken folglich in der Schriftentwicklung gleichzeitig auf die Schreibung:

  1. Aussprache (phonetische Schreibung, Lautschrift)
  2. Ableitung (etymologische bzw. Stammschreibung: nach Herkunft)
  3. Analogie (nach Ähnlichkeit mit anderen Wörtern, auch durch Volksetymologie)
  4. allgemeiner Schreibgebrauch (konventionelle Schreibung: so wie üblich)

Wenn willkürlich einmal das eine, dann wieder ein anderes Prinzip zum Zuge kommt, ergibt sich das typische unsystematische Erscheinungsbild jeder Schreibung.

3. Konkrete Einflüsse

Die genannten Prinzipien kommen in verschiedenen konkreten Einflüssen auf die Schriftentwicklung zum Tragen:

4. Funktion der Schrift

Daß die Schrift der europäischen Sprachen mehr oder weniger stark auf einer Entsprechung von Lauten und Zeichen beruht, bedeutet keineswegs, daß die geschriebenen Wörter nur oder in erster Linie gesprochene Wörter, also Lautkörper widerspiegeln – im Gegenteil: Der Ursprung schriftlicher Zeichen bestimmt nicht deren Funktion, seit dem oben erläuterten bildhaften Anfang der Entwicklung von Schrift repräsentieren geschriebene Wörter vor allem Begriffe, also Inhalte, Bedeutungen. Jedermann kann dies selbst testen:
    Wer diesen und die folgenden Sätze in gewohnter Lesegeschwindigkeit flüssig, aber bewußt liest, merkt schnell, daß er bzw. sie keineswegs die einzelnen Buchstaben der Wörter registriert und weder hörbar noch im Geiste deren Klang produziert, um davon deren Bedeutung abzuleiten — vielmehr erfaßt ein geübter Leser von jedem Wort blitzschnell ganzheitlich nur das ihm vertraute Schriftbild; lediglich schwierige oder wenig vertraute Wörter (z. B. "Chuzpe") werden langsam und sogar Buchstabe für Buchstabe gelesen. Bekannte Fremd- oder Lehnwörter werden wiederum auch dann verstanden, wenn der Leser deren korrekte Aussprache gar nicht kennt.
    Ein weiteres Beispiel: Die Sprecher vieler deutscher Dialekte, die sich heute hauptsächlich durch ihre Lautung vom Standarddeutschen unterscheiden, verwenden alle dieselbe Schriftform. Solange Sprecher des Standarddeutschen schriftlich (per Brief, Fax, eMail) z. B. mit einem bayerischen Geschäftsmann oder friesischen Zimmerwirt kommunizieren, gibt es keine Problem; eine mündliche Kommunikation hingegen kann zur Geduldsprobe auch dann werden, wenn diese Personen dieselben Wörter wie in ihren Schreiben verwenden. Geschriebene Wörter stehen nämlich nicht für gesprochene Wörter, sondern für gedachte Begriffe.

Aussprache und Schrift sind also zwei unterschiedliche, aber gleichberechtigte Ausdrucksformen einer Sprache, und auch noch weitere Formen – etwa eine auf Gestik beruhende "Zeichensprache" (Gebärdensprache) – sind denkbar und kommen vor. Letztlich bedeutet dies, daß eine andere Schreibweise eines bestimmten Wortes im Prinzip genauso zu bewerten ist wie eine weitere Sprechweise bzw. Aussprache eben dieses Wortes! Die Reglementierung der Schreibung ist also nicht weniger unerhört, als es die Reglementierung der Aussprache eines Wortes wäre.

Dramatisch wird eine angeblich andere Schreibweise eines Wortes dann, wenn diese schon von einem anderen Wort besetzt ist: Die Getrenntschreibung, Großschreibung, Konsonantenverdopplung und Kommasetzung der amtlichen Falschschreibung verlangen für etliche Begriffe und Sätze Schreibweisen, die bereits existieren, aber eine andere Bedeutung haben. Ein "wohl bekanntes" Risiko etwa hat im Deutschen immer schon eine eigene Bedeutung gehabt (nämlich ein 'vermutlich bekanntes'), ebenso wie das kleine und daher unpersönliche bzw. anonyme "du". So werden vorsätzlich Homographe bzw. Homonyme erzeugt, die leicht kollidieren und zum Untergang eines Wortes führen können (Homonymenkollision Glossar: Buchstabe "h"). Die "Reform" versucht daher hier keineswegs, die Schreibung eines Wortes zu ändern, sondern

  1. das betreffende Wort (Morphem, Lexem) aus dem schriftlichen Sprachregister zu eliminieren,
  2. die so verlorene Bedeutung bei einem anderen, ähnlichen Wort anzusiedeln   und
  3. dessen konventionelle Bedeutung zur Nebenbedeutung zu degradieren oder ganz zu eliminieren.

Im Ergebnis wird ein Wort verboten, und ein anderes erhält eine zweite oder eine andere Bedeutung – zumindest auf dem Papier des Gesetzgebers. Dagegen steht die Tatsache, daß die Bedeutung einer sprachlichen Botschaft nicht vom Sender festgelegt wird, sondern vom Empfänger (vom Leser), und zwar auf Grundlage sprachlicher Konventionen, die wie viele andere grundlegende menschliche Verhaltensweisen im Kindesalter geprägt werden. Die Bedeutung eines Wortes per Gesetz oder Erlaß ändern zu wollen, mag aus Sicht der beauftragten "Experten" noch als unprofessionelle Naivität gelten können — auf Seiten der verantwortlichen Politiker und Bürokraten jedoch handelt es sich um totalitäre Anmaßung, die ihr Vorbild in der Weltliteratur findet, nämlich dem Roman George Orwells: 1984.
    In dem Maße, in dem die "Reform" ihre Nachahmer und Mitläufer (Mitschreiber) findet, in dem Maße gibt es auch Situationen, in denen die einen das eine meinen und die anderen etwas anderes verstehen. Konsequent wäre jetzt aus totalitärer Sicht, all jene Menschen, die bislang an der Rechtschreibung festhalten, gesetzlich zur Übernahme der neuen Bedeutungen zu zwingen ...

5. Quintessenz

Vor allem die letzten beiden Punkte macht deutlich, daß der Versuch, Rechtschreibung obrigkeitsstaatlich per Verordnung zu ändern, nicht nur den sichtbaren Ausdruck einer gesprochenen Sprache berührt, sondern eine zweite, von der Lautung unabhängige Ausdrucksform dieser Sprache, also die Vielfalt und Ausdrucksfähigkeit der Sprache selbst.
    Es zeugt mindestens von sprachwissenschaftlichem Unverstand, daß ausgerechnet hohe deutsche Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht, die ja selbst ein eigenes, schriftliches Sprachregister pflegen, die Existenz einer eigenständigen Schriftsprache in ihren Urteilen zur Rechtschreibreform ignorieren; es ist Ausdruck totalitärer Arroganz, wenn Politiker und Bürokraten sprachlichen Ausdruck auf formaler (graphischer) wie auch inhaltlicher Ebene manipulieren und Wortbedeutungen per Dekret verordnen wollen; und es ist beschämend für die ganze Zunft der Linguistik, wenn das Institut für deutsche Sprache (IDS) am 17.10.1996 zur Verteidigung der Reform erklärt, die Sprache selbst sei von der Reform nicht betroffen. Wer nicht weiß, was Sprache ist, der sollte den Mund halten und die schreibenden Finger von ihr lassen!


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