Falsche Argumente für eine falsche Reform 3
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Sekundärargumente |
Als im August 2004 einige Verlage ihre Rückkehr zur konventionellen Rechtschreibung ankündigen, sehen die "Reformer" ihren für den August 2005 geplanten Triumph über die deutsche Sprache unerwartet gefährdet. Entsprechend wütend fallen ihre Reaktionen aus. Kennzeichnend ist, daß fast alle jetzt vorgebrachten "Argumente" Sekundärargumente sind, die mit der eigentlichen "Reform", ihren vorgeblichen Vorzügen und Zwecken, nichts zu tun haben. Deutlicher könnten die "Reformer" das inhaltliche Scheitern ihres Projekts nicht dokumentieren. Hier werden die zehn häufigsten Sekundärargumente widerlegt:
- Der Zug ist abgefahren, die Kritiker kommen zu spät, nach einer so langen Zeit kann man die Reform nicht mehr zurückdrehen.
- Wenn man nach rund 100 Jahren (19021998) die Rechtschreibung neu regeln kann, dann kann man es erst recht nach nur sechs oder acht Jahren.
- Mit der "Reform" betraten Verlage, Schulen, Behörden, Firmen etc. Neuland; die Rückkehr aber bedeutet für fast alle Menschen eine Rückkehr zu vertrauten Schreibweisen. Die Rückkehr ist also einfacher als die "Reform".
- Wir können den Kindern nicht zumuten, alles neu zu lernen.
- Genau das haben die Kultusminister je nach Bundesland 1996 bzw. 1998 gegen den Willen der Eltern getan. Wenn das nach Meinung der Kultusminister damals richtig war, wieso soll es dann jetzt eine Zumutung sein? Und wieso soll es schlimm sein, Schülern zuzumuten, die Schreibweise ihrer Eltern und der meisten bislang gedruckten Bücher zu lernen? Was soll schlecht sein an einem Regelwerk, das immer noch von der großen Mehrheit bevorzugt wird, das die Wortbedeutungen respektiert und weniger Fehler provoziert?
- Kinder lernen schneller und kommen bekanntlich mit sich ändernden Lehrinhalten deutlich besser zurecht als Erwachsene. Die Reformer bestätigen das selber mit ihrem Hinweis, die "Reform" sei problemlos eingeführt worden.
- Die Bevölkerung besteht nicht nur aus Schülern, sondern auch und vor allem aus Erwachsenen. Diese empfinden die "Reform" als Zumutung, deshalb gehört sie in einer Demokratie abgeschafft. Eltern haben im übrigen ein ursprünglicheres Recht, über Zumutungen für ihre Kinder zu befinden, als Politiker.
- Aus dem Munde derjenigen, die die "Reform" gegen den Willen der Eltern durchgesetzt haben, ist dieses Argument perfide: Wer Menschen ihrer Rechte beraubt, sollte sich nicht auch noch als ihr Beschützer aufspielen. In Wahrheit halten es die Kultuspolitiker für unzumutbar, ihr Scheitern einzugestehen.
- Die Reform ist an den Schulen problemlos eingeführt worden, sie ist folglich akzeptiert und hat sich bewährt.
Das ist ebenso falsch wie irrelevant, ja geradezu perfide:
- Die Reform wurde zwangsweise eingeführt, von "Akzeptanz" kann somit keine Rede sein. Die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe oder das heutige Leben nicht durch Evolution, sondern durch göttliche Schöpfung entstanden, wäre auch problemlos eingeführt und gelernt worden. Schüler haben weder die Macht noch das Wissen, sich dagegen zu wehren.
- Der Erfolg ihrer Durchführung sagt nichts über die Berechtigung oder Qualität einer Reform aus. Wer die "Rechtschreibform" ernsthaft mit der Behauptung verteidigt, sie sei "problemlos" durchgeführt worden, der würde mit dem gleichen "Argument" auch die Vertreibung eines Volkes oder ein anderes Verbrechen gutheißen, wenn dessen Durchführung ohne größere Schwierigkeiten möglich ist.
Ein Vergleich, der manchen gar nicht gefallen wird: Nachdem Ende September 1941 in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew unter Verantwortung des deutschen Heeres über 30000 Juden ermorden worden waren, meldete der verantwortliche SS-Standartenführer Paul Blobel nach Berlin: "Am 29. und 30. September 33771 Juden exekutiert. Die Aktion ist reibungslos verlaufen." Nur Geisteskranke werden aus dem "reibungslosen" Verlauf des Verbrechens eine Rechtfertigung für dasselbe ableiten.
- Eine Schriftsprache erschöpft sich nicht im Ausdrucksvermögen etwa eines Zehnjährigen, sie hat sich zu bewähren im Gebrauch durch Erwachsene: in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur, Politik und im Privaten. Dort versagt die "Reform", und dort wird sie bekämpft.
- Auch an Schulen hat die "Reform" ihr Ziel verfehlt: Es werden mehr Fehler gemacht, und die Unsicherheit ist gewachsen.
- Chaos und Verwirrung würden durch die Rückkehr zur "alten Rechtschreibung" noch größer.
- Das Chaos existiert seit Jahren. Verursacht wurde es durch eine mit der Rechtschreibung konkurrierende Schulschreibung, die gegen die große Mehrheit zwangsweise eingeführt wurde und eine allgemeine orthographische Unsicherheit ausgelöst hat. Die Rückkehr würde die gewünschte Einheitlichkeit wiederherstellen.
- Die Folgen der "Reform" sind besonders bei der neuen ss-Schreibung mehr Fehler als zuvor, allgemeine Verunsicherung und ein allgemein geschwächtes Rechtschreibbewußtsein. Abhilfe schafft nur die Beseitigung der Ursache, also der "Reform", nicht ihr Fortbestehen.
- Die Umstellung auf die konventionelle Orthographie kann an Schulen nicht chaotischer sein als die "Reform", da alle Lehrer in der konventionellen Schreibung aufgewachsen sind und studiert haben und auch die Schüler sie rezeptiv kennen.
- Verwirrung löst die Rückkehr vor allem unter den Reformern und Mitläufern aus, die den Triumph ihrer Anmaßung gefährdet sehen.
- Es gibt Wichtigeres zu tun, als sich erneut mit der Rechtschreibreform zu befassen.
Ein besonders dümmliches Argument, das viel über seine Verwender aussagt:
- Es gibt immer Wichtigeres, Frieden zum Beispiel ist wichtiger als Wohlstand, dennoch würden auch die Reformer auf letzteren ungern verzichten.
- Gab es in den 1990er Jahren nichts politisch Wichtigeres als die "Rechtschreibreform"? Und wenn es Wichtigeres gab als diese "Reform", warum wurde sie dann durchgeführt?
- Die Kosten für die Umkehr sind zu hoch und Verlagen und Eltern nicht zumutbar.
- Genau dieses Argument wurde vor Einführung der "Reform" blind ignoriert, jetzt soll es plötzlich relevant sein. Mit welchem Maß wird da gemessen?
- Die Rückkehr zu einer vertrauten Orthographie ist logischerweise leichter und kostengünstiger als die Umstellung auf eine neue, unausgereifte, die häufig nachzubessern ist.
- Eine Rückkehr belohnt zu Recht jene Verlage, die demokratisch und kundenorientiert bei der konventionellen Schreibung geblieben sind. Wirkliche Opfer sind nur die Schulbuchverlage, die gegen die "Reform" waren und natürlich die Eltern, die an den Büchern finanziell beteiligt sind.
- Gerade den Reformern und ihren Mitläufern ist es unbenommen, den entstandenen Schaden durch großzügige Spenden zumindest teilweise wiedergutzumachen.
- Wozu die Aufregung? Die Reform ist doch nur für Schulen und Behörden verbindlich!
- Die Behauptung, die Reform sei bei Behörden verbindlich, ist von dem bekannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckt und stellt folglich eine rechtswidrige Anmaßung (Kompetenz-Arrogation) dar. Die "Reform" ist nach Feststellung des Gerichts "auf den Bereich der Schulen beschränkt".
- Dieselben "Reformer", die dieses heuchlerische "Argument" vorbringen, reagieren empört, wenn große Verlage, für die die "Reform" eben nicht verbindlich ist, diese tatsächlich nicht umsetzen: Der Spiegel- und Springer-Verlag wurden nach ihrer Ankündigung, zur konventionellen Rechtschreibung zurückzukehren, des u. a. "Diktats" und der "Erpressung" bezichtigt.
- Es geht doch nur um die Schreibung, nicht um die Sprache. Oder: Nur der Inhalt zählt.
Solches war z. B. am 24.08.2004 vom Vorsitzenden der Zwischenstaatlichen Kommission zu hören.
- Sprachwissenschaftlich ist diese Behauptung falsch: Die schriftliche Ausdrucksebene gehört ebenso selbstverständlich zu einer Sprache wie die mündliche, lautliche. Natürlich beeinflussen sich beide gegenseitig, aber weder bildet die Schreibung die Lautung ab noch umgekehrt. (Man stelle sich umgekehrt einmal vor, der Staat wollte per Verordnung die Kinder zwingen, Wörter gegen den Willen ihrer Eltern anders als üblich auszusprechen etwa so, wie man sie schreibt, weil das ja eine "Erleichterung" sei ...)
- Die vielen von der "viel versprechenden" "Reform" verordneten sinnentstellenden Schreibweisen zeigen, daß die Schreibung einer Sprache ebenso viel ausdrücken kann wie ihre Lautung.
- Wir stehen im deutschsprachigen Ausland im Wort und dürfen die Rechtschreibung nicht spalten.
- Einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag gibt es nicht.
- Die Schweiz denkt seit Jahrzehnten nicht daran, sich der deutschen Rechtschreibung zugunsten einer Vereinheitlichung anzupassen warum soll Deutschland es jetzt tun?
- Es steht allen Ländern mit deutschsprachiger Schriftkultur frei, zur deutschen Rechtschreibung zurückzukehren und Einheitlichkeit herzustellen.
- Schreibung ist nur eine Sache der Gewohnheit, in 10 oder 20 Jahren regt sich keiner mehr über die Reform auf.
Man muß also die Proteste nur solange aussitzen, bis das Volk die "richtige" Einstellung hat? Mit diesem "ultimativen", totalitären Argument staatlicher Überheblichkeit läßt sich jede Form der Demokratie abwürgen: Volksbegehren, Volksentscheide, alle Wahlen.
So gut wie nicht mehr zu hören ist im Sommer 2004 das ursprüngliche Argument, die "Reform" bringe eine Erleichterung für das Lernen der Rechtschreibung: eine Behauptung, die nie bewiesen, aber längst widerlegt wurde und zudem zweitrangig ist: der Sinn des Schreibens liegt bekanntlich im leichten Lesen, in der guten Lesbarkeit eines Textes, nicht im leichten Schreiben selbst.
Zu hören sind allerdings Rufe nach einem Kompromiß, wie er im Entwurf der Rechtschreibkommission der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nachzulesen ist: „Unser Vorschlag”, erklärt der Entwurf einleitend, "geht angesichts der Lage von der Neuregelung aus und übernimmt von ihr nicht nur, was sinnvoll, sondern auch, was ohne nennenswerten Schaden hinnehmbar ist". Dazu solle insbesondere die Abschaffung des ß nach Kurzvokalbuchstaben gehören. Da die Änderungen von ß in ss ca. 95% der betroffenen Wörter ausmacht, besteht nun die Gefahr, daß eine Reform nur deshalb verbindlich wird, weil sie zu 95% "ohne nennenswerten Schaden hinnehmbar" sei. Welch eine Blamage wäre das!
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