Falsche Argumente für eine falsche Reform 1
Pro & Contra: Einführung |
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Folgende Aussagen konnte man in der Auseinandersetzung um die "Rechtschreibreform" immer wieder hören und lesen; sie lassen sich zwei Gruppen zuordnen: einerseits gesellschaftspolitischen und andererseits sachlichen (sprachwissenschaftlichen) Thesen, die jeweils anschließend zurechtgerückt werden:
1. Ob die Rechtschreibung geändert wird oder nicht, interessiert mich schlicht nicht ...
- Wer privat und beruflich nicht viel schreibt und liest, ist in der Tat wenig von der "Rechtschreibreform" betroffen. Orthographie ist dann ein Problem "der anderen", ein Problem, das man einst als Schüler(in) hatte, von dem man aber jetzt erlöst ist und nichts mehr wissen will.
- Die gleiche gleichgültige Haltung findet sich in vielen weiteren Bereichen, die die Privatsphäre nicht unmittelbar berühren und macht es den Regierenden leicht, undemokratische Projekte durchzusetzen und von der "schweigenden Mehrheit" zu sprechen, die sie angeblich repräsentieren.
2. Es gibt viel wichtigere Probleme, also finde ich mich mit der Reform ab.
Das wird konkret auch so sein, ist aber kein Grund, die amtliche Falschschreibung zu akzeptieren, denn der Eingriff des Staates hat ganz grundsätzliche Bedeutung:
- Darf ein Staat seinen Bürgern verordnen, daß bestimmte ihrer schriftlichen Äußerungen plötzlich eine andere Bedeutung haben sollen ("Leid tun", "nichts sagend", "wohl bekannt" etc.) und ihre Gedanken plötzlich anders schriftlich zum Ausdruck gebracht werden sollen als zuvor? Wer die eigenen und die Menschenrechte anderer achtet, sagt: nein!
- Darf ein Staat den erklärten und eindeutigen Willen seiner Bürger mißachten selbst dann, wenn sich diese Bürger wie in Schleswig-Holstein in einem Referendum gegen ein staatliches Vorhaben entschieden haben? Wer diesen arroganten Machtanspruch des Staates verteidigt, darf sich nicht wundern, wenn sich der nächste staatliche Übergriff gegen ihn selbst und seine eigenen Ziele richtet.
- Menschen haben unterschiedliche Prioritäten, nehmen je nach Erziehung und Erfahrungen Probleme unterschiedlich wahr. Nicht wenige setzen sogar radikal ihre eigenen Wertvorstellungen absolut und die Überzeugungen anderer dadurch herab:
- Kinderschützer empören sich lautstark über Tierschützer, die sich "besser um das millionenfache Elend unserer Kinder als um ein paar Straßenköter kümmern sollten";
- Tierschützer wenden sich kompromißlos vom Egoismus und Unrecht menschlicher Gesellschaft ab und ihrer Hauskatze zu, auch wenn diese geschützte Vögel wildert;
- Vogelschützer protestieren entrüstet gegen jede Baumfällaktion, selbst wenn sie einen neuen, wertvolleren Biotoptyp für bodenbewohnende Kleinlebewesen schafft;
- Manche Gartenbesitzer möchten am liebsten alle Wildflora vernichten, "damit das Laub nicht den Plattenweg verschmutzt und der Garten nicht verwildert",
- und einige Realisten haben erkannt, daß "es Wichtigeres auf der Welt gibt als ein paar verwilderte Ecken, Tümpel und überfahrene Kröten! Angesichts der großen Arbeitslosigkeit, der Strukturschwäche der Wirtschaft, der globalen Herausforderungen etc. können wir auf die unverantwortlichen Forderungen einiger Öko-Spinner keine Rücksicht nehmen ..."
- Diese Liste läßt sich problemlos fortsetzen z. B. durch jene "Problemlöser", die glauben, durch Verachtung von Sprachschützern schon etwas für ihre eigene, so viel wichtigere Sache gewonnen zu haben. Der Staat nimmt diese Primitivität dankend zur Kenntnis.
- "Das eine tun, aber das andere nicht lassen" dieser Spruch gilt auch für den Widerstand gegen die sprachliche Bevormundung der Bürger durch den Staat.
- Schließlich: Wenn es wichtigere Probleme gibt, warum kümmert sich der Staat dann nicht um diese statt um die Rechtschreibung?
3. Die Reform ist gesetzlich vorgeschrieben, also muß man sich danach richten die Gerichte haben die Rechtmäßigkeit der Reform bestätigt.
4. Die neue Rechtschreibung ist modern, fortschrittlich, wir sollten nicht hinterherhinken.
- Modern und fortschrittlich ist die Amtsschreibung nicht einmal insofern, als sie neu zu sein scheint, denn sie ist es nicht: Das Doppel-s, Großschreibungen, Getrenntschreibungen und Silbentrennungen gehen auf Schreibweisen im frühen 19., 18. und 17. Jahrhundert zurück. Die Uhr mehr oder weniger natürlicher Sprach- und Schriftentwicklung soll also mit staatlicher Gewalt zurückgedreht werden. Auf fruchtbaren Boden fällt die "Reform" also nur bei jenen, die von der deutschen Sprach- und Schriftgeschichte nichts wissen (wollen) und scheinbar Neues naiv nur deshalb begrüßen, weil es anders als das Alte ist, das sie kennen.
- Vor historischen Erfahrungen ist es grundsätzlich mehr als naiv, ausgerechnet staatlichen Verordnungen mehr Fortschrittlichkeit zu unterstellen als natürlichen Entwicklungen in den Bereichen der Kultur und Wirtschaft zumal diese staatlichen Eingriffe sich über den erklärten Widerspruch der großen Mehrheit der Bevölkerung hinwegsetzen.
- Es wird immer Menschen geben, die es für ihre vornehmste Aufgabe halten, unbedingt mit, nicht gegen den Strom zu schwimmen. Dagegen kann man nichts machen außer ihnen den Spiegel vorzuhalten.
5. Die neue Rechtschreibung hebt künstliche Klassenunterschiede auf.
- Gerade in "linken" Kreisen wird eine Schreibreform seit langem ideologisch besetzt: Eine komplexe, differenzierte Orthographie sei "Herrschaftswissen" und somit privilegierten Schichten vorbehalten; die Arbeiterschicht werde dadurch diskriminiert. Die Folge solcher oder ähnlicher Einstellung aber ist, daß nicht bestimmte, auf die angeblichen Bedürfnisse niedriger Bildungsgrade zugeschnittene, also vereinfachte Schreibweisen propagiert werden, sondern alles, was im vermeintlich modernen Gewande daherkommt, auch wenn es ein Sammelsurium unterschiedlichster Reformansätze und Kompromisse darstellt.
- Eine Bildungsreform kann nicht erfolgreich sein, indem sie Bildungsansprüche an eine heranwachsende Generation in Anpassung an sozial benachteiligte Schichten nach "unten" korrigiert. "Gleichmacherei" wenn dieses Wort einmal gestattet ist darf nur bedeuten, daß alle Schichten gleichermaßen an ein möglichst hohes Bildungsniveau und daher auch an eine differenzierte, präzise Schriftsprache herangeführt werden.
6. Die Kritiker haben jahrelang geschlafen und schreien erst, wenn es schon zu spät ist.
- Die "Reformer" haben ihre jeweiligen Beratungsstände jahrelang so gut es ging geheimgehalten und das Wörterverzeichnis zur Reform erst im Sommer 1995 veröffentlicht, was den bayerischen Kultusminister 1995 in einem Spiegel-Interview u. a. zu dem Kommentar veranlaßte: "Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht informiert. Deshalb werden viele erschrecken, wenn es nun zu einer Reform kommt, und zwar auch dann, wenn noch einiges geändert wird. Viele haben gar nicht mehr an eine Reform geglaubt, nachdem seit fast hundert Jahren alle Vorschläge gescheitert sind."
- Politiker wie "Reformer" haben unter den Kritikern und diese machen die Mehrheit der Bevölkerung aus immer nur auf eine Handvoll Schriftsteller gezeigt, die vielleicht ein paar Monate früher hätten Alarm schlagen können, aber eben in ihrer verschwindend geringen Zahl auch nicht das alleinige Sprach- oder besser: Schreibgewissen der Nation sein können. Die Rechtschreibung unserer Sprache betrifft uns alle, also hatten und haben auch alle ein Recht darauf, zuerst informiert und dann gehört zu werden.
- Konstruktive wie auch kritische Beiträge hat es sehr wohl gegeben, aus fast allen Richtungen und nicht zu knapp. Ich selbst habe am schon 20.12.1988 meinen ersten Leserbrief zum Thema in der Tagespresse veröffentlicht.
7. Die Reform wurde von Fachleuten bzw. Linguisten erarbeitet, ist also wohl richtig.
- Den Sachverstand der Experten solle man nicht in Zweifel ziehen, heißt es, denn wer sonst solle die Rechtschreibung regeln? Ob soviel Vertrauen in ihre jeweiligen "Sachverständigen" die politischen Auftraggeber ehrt, kann angesichts der katastrophalen Ungereimtheiten dieser Reform angezweifelt werden: Wer z. B. für einige Adverbien die Großschreibung empfiehlt, kann für sich kaum linguistischen Sachverstand reklamieren. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand wäre auch ein Kultusminister fähig gewesen, solche Schwächen zu erkennen.
- Die fachlichen Schwächen dieser länderübergreifenden "Reform" rührten zu einem nicht geringen Teil von der unentwegten und politisch gewollten Kompromißsuche: Viele Köche verderben bekanntlich den Brei besonders, wenn sie neben ihrer eigenen auch noch die Meinung ihrer Landesherren zu vertreten haben. Die "Reform" ist deshalb meilenweit von einer inneren Logik bzw. besser: Konsistenz entfernt, kein einziger der beteiligten Auftragslinguisten hat sie in dieser widersprüchlichen Ausprägung vorgeschlagen, sie ist vielmehr Regel für Regel und bis hin zur Schreibung einzelner Wörter das Ergebnis hunderter Kompromisse zwischen "Experten" und dann zwischen diesen und Politikern. Daß wissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht durch Abstimmungen zu gewinnen sind, braucht nicht näher begründet zu werden.
- Unqualifiziert waren die "Experten" auch ganz grundsätzlich. Wie für viele Berufsstände gilt auch für Sprachwissenschaftler ein Ehrenkodex: Während etwa Ärzte an den bekannten "hippokratischen Eid" gebunden und vor allem zur Vertraulichkeit und Erhaltung menschlichen Lebens verpflichtet sind, gilt für Linguisten das Gebot, Sprache so zu analysieren und beschreiben, wie sie ist, nicht so, wie sie nach eigener Meinung sein sollte; ähnlich wie die Medizin hat auch Linguistik einige schwarze Kapitel in der Geschichte ideologischer Auseinandersetzungen oder gar staatlicher Unterdrückung geschrieben. Objektive Linguistik ist deshalb gleichbedeutend mit deskriptiver Linguistik, wie sie an gleichnamigen Lehrstühlen gelehrt wird. Wer einem Volk vorschreiben will, wie es zu sprechen und zu schreiben hat, verletzt das Ethos deskriptiver Linguistik.
- Das "Institut für Deutsche Sprache" in Mannheim hatte schon 1987 den Auftrag erhalten, Vorschläge für eine "Rechtschreibreform" zu erarbeiten. Seine "Kommission für Rechtschreibfragen" hatte es 1977 gegründet. Daraus wird verständlich, daß ihre Mitglieder am Ende jahrelanger Arbeit keine Empfehlung zur Beibehaltung der konventionellen Rechtschreibung abgeben konnten, zumal etliche dieser Auftragslinguisten die Chance hatten und wahrnahmen, sich mit dieser Reform einen Namen zu machen und lukrative Jobs bei Verlagen (z. B. Bertelsmann) anzunehmen.
- Letztlich sind allerdings alle muttersprachigen Schreiber der deutschen Sprache "sachverständig": Eine Sprache ist nicht das Ergebnis kluger Gedanken von Experten, sondern das zufällige Ergebnis der mehrheitlichen Sprach- und Schreibpraxis eines Volkes. Wenn man eine Reform diesem Volk als Empfehlung vorlegt und der Bewährungsprobe ihrer Akzeptanz durch dieses Volk unterwirft, wird man schnell sehen, ob ihm die neue Schreibung 'recht' ist und damit zur 'Rechtschreibung' wird.
8. Schrift ist nur "äußerlich", die Sprache selber ist also von der Reform nicht betroffen.
- Auf den ersten Blick mag es tatsächlich so scheinen: Es bleibt doch alles beim alten, die Sprache ändert sich doch nicht, nur ein paar Wörter werden jetzt etwas anders geschrieben. Selbst ein ehemaliger Direktor des Instituts für deutsche Sprache, Gerhard Stickel, behauptete vor Jahren, die Schreibung sei doch "bloß das äußerlichste Gewand der Sprache", und am 24.08.2004 äußerte der Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission, Karl Blüml: "Es geht doch nur um die Schreibung, nicht um die Sprache", um zu begründen, warum man "das Ganze nicht so tiefernst nehmen" solle.
Das ist bereits in der Sprachtheorie falsch: Sprache ist weder mit ihrer Lautung noch ihrer Schreibung identisch, sondern ein strukturiertes System von Begriffen, die lautlich, gestisch und schriftlich zum Ausdruck gebracht werden können und werden. Eine bestimmte Schreibweise steht nicht etwa für eine bestimmte Aussprache (Lautung), sie steht vielmehr (ebenso wie eine bestimmte Lautung oder Geste) für einen bestimmten Begriff, für eine bestimmte Vorstellung eines konkreten oder abstrakten Gegenstandes. Wer die Aussprache oder Schreibweise oder gestische Darstellung eines Wortes ändert, ändert damit auch seine Bedeutung: zunächst in der Sprachtheorie und potentiell auch in der Praxis.
- Praktische Beispiele für Sprachveränderung sind bereits zahlreich nachgewiesen worden:
Wortbedeutung: Die konventionelle Schreibung kennt für verschiedene Bedeutungen auch verschiedene Schreibungen. Beispiel: "wieder wählen" = 'noch einmal wählen', aber "wiederwählen" = 'durch Wahl bestätigen' (auch wenn es die erste Wahl ist) es gibt Hunderte solcher Beispiele. Wenn die zwangsreformierte Schulschreibung dort nur noch eine (hier die getrennte) Schreibung zuläßt, so wird diese entweder doppeldeutig, oder sie eliminiert die zweite Bedeutung, oder sie übernimmt die Bedeutung der zweiten früheren Schreibweise: "wieder wählen" z. B. soll jetzt dieselbe Bedeutung haben wie früher "wiederwählen", die getrennte Schreibung soll zusammen mit ihrer Bedeutung verschwinden. Im Klartext: Die Schulschreibung vernichtet viele Wörter der deutschen Sprache.
Wortwahl: Wenn Ausdrücke durch die amtliche Falschschreibung doppeldeutig werden, neigen Schreiber zu alternativer Wortwahl, um eine Fehlinterpretation zu vermeiden: Aus den "rechts stehenden Jugendlichen" werden dann, um sie nicht des Extremismus zu bezichtigen, schnell die "auf der rechten Seite stehenden" bzw. die Jugendlichen, die "auf der rechten Seite standen", und aus einer "wohl vertrauten" wird leicht eine "vermutlich vertraute" Umgebung.
Wortstellung: Statt eines anderen Wortes kann auch eine geänderte Reihenfolge der Wörter Doppeldeutigkeit vermeiden: Das "allen wohl bekannte" Geheimnis gibt es bald nicht mehr, dafür aber das "wohl allen bekannte". Eine Katastrophe stellt diese alternative Formulierung sicherlich nicht dar, aber sie beweist, daß und wie durch eine künstliche "Reform" nicht die (Aus-) Sprache die Schrift bestimmt, sondern umgekehrt die Schrift die Sprache.
Aussprache: Übereifrige Mitläufer unter den "Pädagogen" sprechen den Grundschülern in Wörtern wie behende, Stengel oder überschwenglich ein besonders breites [ä] vor, um ihnen die durchzusetzenden Schreibweisen "behände", "Stängel" oder "überschwänglich" zu erleichtern.
- Die Lüge, die Sprache bzw. ihre Bedeutung werde von Schreibreform nicht nicht geändert, wird von höchsten Stellen verbreitet. Das Bundesministerium der Justiz teilte am 28. September 1999 (Geschäftszeichen IV B 1-6103/2-40220/99) dem Bundeskanzleramt, den Bundesministerien, dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und dem Bundesrechnungshof folgendes mit es kann nicht sein, was nicht sein darf. Man beachte auch in der Betreffzeile die Formulierung "Neuregelung der deutschen Rechtschreibung", die ihre Beschränkung auf den Schulbereich durch das oben zitierte BVerfG-Urteil mißachtet, und darunter den Begriff der "Normsprache" (nicht "Normschreibung"!):
Betr.: Einführung der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung
hier: Normsprache
Bezug: Rundschreiben des BMI vom 7. Juni 1999
- O1-131 212-1/10-
[...]
Die Änderung der Schreibung eines Wortes stellt nur eine Anpassung an die geänderten Rechtschreibregeln dar, ohne eine Änderung der Wortbedeutung zur Folge zu haben. Daher sind rechtliche Konsequenzen durch die neue Schreibung nicht verbunden.
- Das Argument, Schrift sei bloß äußerlich, hat ein bekanntes Zwillingsargument: Wichtiger bzw. entscheidend sei doch der Inhalt, den Reformkritikern sei die Form wichtiger als der Inhalt!
Wer so inhaltsschwer redet, müßte erst einmal begründen, welcher "Inhalt" ihn/sie nötigte, die "Form" bzw. das "Gewand" seiner Sprache zu wechseln. Anschließend wäre noch die Frage zu beantworten, warum eine Schreibung vorzuziehen sei, die durch falsche Getrennt- und Kleinschreibung sowie Kommasetzung gerade den Inhalt in Tausenden von Fällen ändert.
9. Die neue Schreibung ist besser / besser erlernbar, also übernehme ich sie.
- Die Reformer sind in der Öffentlichkeit vor allem mit dem Argument angetreten, unseren Kindern das Erlernen der deutschen Rechtschreibung erleichtern zu können, so daß sie weniger Fehler machen.
Dieser Versuch mußte schon als gescheitert angesehen werden, bevor empirische Ergebnisse breit angelegter Untersuchungen und die Erfahrungen von Grundschullehrern vorlagen, da etliche der neuen Regeln und Bestimmungen die Probleme, die es zweifellos gibt, nicht lösen und aus der Welt schaffen. Ein gutes Beispiel ist das "dass": Dieses vermutlich auffälligste Merkmal der Reform verschiebt die Unsicherheit, wie schon erläutert, nur von dem Wortpaar "das daß" zu "das dass". Gewonnen wird dadurch nichts außer Verwirrung.
- Die leichte Erlernbarkeit der Rechtschreibung ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht überhaupt nicht das entscheidende Kriterium ihrer Güte: Entscheidend für die Qualität sind in erster Linie die leichte Verständlichkeit der Schreibweise und zweitens ihre Konventionalität: Nur wenn Schreibung das Gedachte eindeutig zum Ausdruck bringt und wenn allen Mitgliedern einer Schriftgemeinschaft der Schriftgebrauch bekannt ist, ist Schreibung auch Rechtschreibung und kann ihren Zweck erfüllen.
10. Jede und jeder kann jetzt endlich schreiben, wie er/sie will ...
- Das konnte jede und jeder auch bisher schon im privaten Tagebuch und überall sonst dort, wo man nur mit sich selber kommunizierte, wo Autor und Adressat identisch waren. Sprache ist allerdings in erster Linie ein Mittel der Kommunikation zwischen verschiedenen Menschen, die nur dann zuverlässig funktioniert, wenn sich diese Menschen an dieselbe Konvention halten. Die Vorstellung, alle könnten schreiben, wie sie wollen (oder können ...), sich aber dennoch problemlos verstehen, ist nicht nur naiv, sondern geradezu dümmlich.
- Die Behauptung widerspricht natürlich auch der Forderung nach Einheitlichkeit, die immer wieder erhoben wird, um den Anpassungsdruck zu erhöhen:
11. Die Schrift muß einheitlich sein, also sollten sich alle anpassen.
Das klingt immer gut, also "mußte" die Reform an Schulen durchgesetzt werden, damit unsere Kinder das lernen, was im offiziellen Schrifttum wie in der Presselandschaft bald üblich sein und die alte Schreibweise verdrängen würde.
- Das "Argument" der Anpassung des Schulunterrichts an eine bestehende oder künftige (Schreib-) Norm ist besonders verlogen und perfide, denn die Schreibreform soll ja gerade über den Schulunterricht durchgesetzt werden: Ohne die "Zwangsbekehrung" in den Schulen hat die Reform in der Bevölkerung langfristig keine Chance, und die Verlage sind überwiegend nur wegen der verordneten Schreibpraxis an den Schulen auf die Reform umgeschwenkt.
- Hinzu kommt, daß die hochgehaltene Einheitlichkeit selbst an Schulen gar nicht möglich ist: Literarische Texte, Quelltexte und Zitate werden auch in Zukunft im Original gelesen ...
- Einheitlichkeit war für die Verlage und Redaktionen auch untereinander ein Argument für die Entscheidung im Oktober 1999, die Reform einzuführen: Man fühlte sich einander verpflichtet wohl auch deshalb, weil eine größere Anzahl Abweichler, die an der konventionellen Schreibung festgehalten hätten, sich im harten Konkurrenzkampf einen Marktvorteil gesichert hätte. Ein typisches Beispiel für diesen "Korpsgeist" liefert die Argumentation der Greenpeace-Redaktion.
12. Die getätigten Investitionen in die Neuschreibung dürfen nicht gefährdet werden.
- Im Reigen der Argumente, die eine Sachdebatte verhindern sollen, darf in heutiger Zeit der empörte Hinweis auf zu erwartende Millionenschäden speziell bei Schulbuchverlagen (s. o.) nicht fehlen, wenn Investitionen in die angekündigte Reform umsonst gewesen wären: Die Reform mußte einfach gut sein, damit die Investitionen sich lohnen und solche Schäden nicht entstehen würden. Auch für den rechtspolitischen Sprecher der Grünen war dies schon vor Jahren, als die Reform gerade eingeführt wurde, das behauptete entscheidende Argument, und Beifall von interessierter Seite hat wohl nicht lange auf sich warten lassen. Der Sprecher wird ihn gebraucht haben ...
- Die Gerichte haben längst entschieden, daß Anpassungen an eine geänderte Schreibung allein unternehmerisches Risiko sind und nicht zu Lasten des Staates bzw. Steuerzahlers gehen dürfen.
Nach einigen Jahren des orthographischen Chaos sprechen die genannten Argumente für die Beibehaltung der konventionellen Rechtschreibung überwiegend auch für eine Umkehr.
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